Dicke Luft in Stuttgart – Feinstaubalarm: Einwohner und Hunderttausende Berufspendler täglich sollen freiwillig öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Foto: dpa

Feinstaubalarm - und wann er genau endet, ist noch unklar. In Stuttgart wird die Aufforderung, das Auto stehen zu lassen, frühestens am Samstag hinfällig sein. Derweil rätseln die Behörden und die Beobachter, warum so viele Autofahrer auf den Appell pfeifen.

Stuttgart - Massenbewegungen sehen anders aus. Dass es in Stuttgart nach dem Feinstaubalarm einen massiven Umstieg von Autofahrern auf Busse und Bahnen gegeben hätte, kann niemand behaupten. Auch am Dienstag, dem zweiten Tag des Feinstaubalarms, kann die Sprecherin der Stuttgarter Straßenbahnen AG nicht mit klaren Zuwächsen dienen. „Wir beobachteten keinen signifikant höheren Zuspruch“, sagt Susanne Schupp. Schon gar keinen, der eindeutig auf den Feinstaubalarm zurückzuführen wäre. Der Feinstaubalarm von Stuttgart, bundesweit der erste seiner Art, ist irgendwie auf der Strecke geblieben.

Offenbar gibt es viele Gründe, dass Autofahrer zumindest freiwillig nicht auf ihr Auto mit Verbrennungsmotor verzichten – mögen die Behörden angesichts einer kritischen Wetterlage auch vor der gesundheitsgefährdenden Anreicherung von Luftschadstoffen warnen.

Die Alternative ist manchmal unattraktiv

Christian Deplewski hat schon am Montag seinen Wagen zu den Universitätsgebäuden in der Innenstadt gesteuert. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre er vom Wohnort im Kreis Calw stundenlang unterwegs, sagt er. Den Albtraum will er nicht auf sich nehmen. Sollte der Alarm einmal mit Fahrverboten verbunden sein (Anfang 2018, wenn Stuttgarts Luft nicht bald die Grenzwerte einhält), würde er seine Lehrveranstaltung an der Architektur-Fakultät absagen.

Selbst in der hohen Politik folgen nicht alle dem Appell. Claus Schmiedel, Fraktionschef der SPD im Landtag, hat das offen zugegeben. „Feinstaubalarm ist eine feine Sache. Ich kam völlig problemlos durch“, tönte er nach seiner Autofahrt zum Stuttgarter Stadtzentrum. Jetzt ärgern sich Parteifreunde über seine mangelnde Sensibilität für politische Fragen und für Umweltfragen.

Einschätzung des Verkehrsaufkommens ist schwierig

Wie viele möglicherweise doch umgestiegen sind, weiß niemand. Die Behörden von Land und Stadt lassen zwar durchspielen, wie es auf den Straßen und in den Schienenfahrzeugen an ähnlichen Tagen mit ähnlicher Wetterlage aussah, doch alle Vergleichsergebnisse werden nur Näherungswerte sein – und erst nach einigen solchen Alarmphasen oder am Jahresende vorliegen.

Bundesweit ist jetzt aber bereits die Kunde verbreitet, dass in Stuttgart ein neuartiger Feinstaubalarm ausgerufen wurde – und die Straßen in Stuttgart und Umgebung voll waren wie immer. Das Urteil der Umweltverbände steht: Das sei eine Luftnummer. Mit Appellen und Freiwilligkeit komme man nicht weiter. Nach vielen Jahren von Überschreitungen der Feinstaub- und Stickoxidgrenzwerte brauche es in Stuttgart Fahrverbote für Autos. Die Deutsche Umwelthilfe beklagt einen „Kniefall vor Daimler“. Der Autoclub ACE verlangt bessere Anreize zum Umsteigen, etwa den, dass Einzeltickets für Busse und Bahnen an Feinstaubtagen als Tagestickets akzeptiert werden wie mancherorts in Italien. Stuttgart dürfe nicht zum deutschen Peking mit Smogzuständen werden, fordert der Naturschutzbund.

Umweltschützer senken den Daumen

Am Dienstag können sich die Verbände noch bestärkt fühlen. Da muss Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) einräumen, dass am ersten Tag der Alarmphase am Brennpunkt Neckartor der vorläufige Wert von 89 Mikrogramm Feinstaub pro Kubikmeter Luft ermittelt wurde, viermal so viel wie an den Vortagen. Erlaubt sind von der Europäischen Union 35 Tage pro Jahr mit über 50 Mikrogramm. Sonst drohen dem Land saftige Strafzahlungen. 72 Überschreitungstage gab es 2015 in Stuttgart. Der 18. Januar wird, abgesehen vom Neujahrstag mit den Folgen des Feuerwerks, als erster Überschreitungstag des Jahres 2016 am Anfang der neuen Rechnung stehen.

Kein fulminanter Umstieg, Grenzwert trotz Feinstaubalarms überschritten – war also alles umsonst? Die grün-rote Landesregierung wirft sich mächtig ins Zeug, um das zu bestreiten. Sogar Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) mahnt Geduld an. Man tue gut daran, zunächst mit Geboten und Verboten sparsam umzugehen. Wenn das Ergebnis am Ende nicht stimme, müsse man sich mehr überlegen.

Von Misserfolg wollen Behörden nicht reden

Stuttgarts OB Fritz Kuhn (Grüne) und Verkehrsminister Hermann drehen den Spieß um. Sie werten die Überschreitung als Beleg dafür, „wie notwendig es war, den Feinstaubalarm auszulösen“. Angesichts des hohen Wertes sei es „umso notwendiger, dass möglichst viele Menschen ihr Verhalten ändern“. Im Ministerium weigert man sich, von einem Misserfolg der Aktion Feinstaubalarm zu sprechen. „Die unfassbare mediale Wahrnehmung des Themas ist für sich schon ein Erfolg“, meint Edgar Neumann, der Sprecher des Ministers.

Der Stadtklimatologe Ulrich Reuter von der Stadt Stuttgart sieht – trotz offener Fragen – schon die erste Erkenntnis aus dem neuartigen Alarm. Dass man ihn bereits ausrufe, wenn mindestens zwei Tage mit austauscharmer Wetterlage und Windstille die Anreicherung von hohen Schadstoffwerten erwarten ließen, sei richtig, meint der Mann, der täglich die neue Wetterprognose entgegennimmt, prüft und gegebenenfalls den Alarm auslöst.

Anderes Verfahren gewählt

Dieses Verfahren ist eine Stuttgarter Spezialität. Bevor man sich darauf verständigte, hatte man die Statistiken auf die Zusammenhänge von Witterungsdaten und Schadstoffwerten in Stuttgart untersucht. In anderen Städten, etwa in Italien, werden die Alarme erst nach Überschreitung der Grenzwerte ausgerufen – wenn das Kind schon tief im Brunnen ist. Aber wichtig sei es doch, sagt Reuter, den Anstieg über den Grenzwert hinaus zu verhindern oder wenigstens zu dämpfen.

Das wird Stuttgart mit Appellen an die Autofahrer in der ganzen Metropolregion auch in den nächsten Tagen versuchen. Am Dienstag ist der Alarm nach der Auswertung der neuesten Wetterprognose verlängert worden: von Donnerstag, 24 Uhr, bis Freitag, 24 Uhr. In der Nacht zum Samstag soll es Regen geben, der den Feinstaub aus der Luft herauswaschen und am Boden halten könnte. Aber um Entwarnung zu geben, müssten mindestens zwei harmlosere Tage, also auch am Sonntag, absehbar sein. Die nächste Entscheidung, ob der Feinstaubalarm mit dem Freitag endet, fällt am Donnerstagmittag.

Der nächste Alarm kommt sicher

Wie immer sie ausgehen wird: Der nächste Alarm kommt sicher. Früher oder später. Im Lauf der Zeit werden die Behörden näher bewerten, was veränderungsbedürftig ist. Wünsche von Autofahrern gibt es viele.

Manche sehen zum Beispiel nicht ein, dass sie nicht einmal am Rande von Stuttgart fahren dürfen, obwohl sie den schadstoffbelasteten Stuttgarter Kessel meiden. Was ihre Autos ausstoßen, könnte allerdings trotzdem als Hintergrundbelastung zu Brennpunkten wie dem Neckartor geweht werden und die Lage dort verschärfen. Andere Automobilisten wehren sich aber gegen das Ansinnen, dass sie im Zentrum nicht fahren sollen, obwohl viele der inkriminierten Schadstoffe dort gar nicht vom lokalen Verkehr stammen, wie sie meinen, sondern herangeweht worden seien.

Einiges muss noch aufgearbeitet werden

Da ist also noch viel aufzuarbeiten. Aber die Frage, ob die Autos in der ganzen Umweltzone Stuttgart ausgebremst werden sollen oder nicht, werde erst erörtert werden, wenn es auf Fahrverbote im Jahr 2018 rauslaufe, glaubt man im Verkehrsministerium.

Einstweilen sieht man dort vor allem eine Notwendigkeit: dass man die vermehrte Aufmerksamkeit für die Feinstaubproblematik erhält. „Wir müssen versuchen, die Kurve hoch zu halten“, sagt der Sprecher des Verkehrsministers.

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