Stadthistoriker Herbert Medek vor dem Stellwerkhäuschen von 1927 Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Auf Spurensuche: In unserer Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ wollen wir mit Hilfe unserer Leser Geschichten aufspüren, die in den vielen Winkeln der Stadt verborgen sind. Wir schauen auf Orte, Fassaden, Kulturdenkmäler, die sich nicht auf den ersten Blick erklären. Diesmal: der Westbahnhof.

Stuttgart - Nächste Haltestelle: Westbahnhof. Moment mal, welcher Westbahnhof denn? Nun, tatsächlich erinnert auf dem riesigen Areal an der Rotenwaldstraße kaum noch etwas an jene fast einhundert Jahre, in denen sich hier eine der Hauptverkehrsdrehscheiben der Stadt befand. Wo heute nur wenige drei Passagiere an der Endhaltestelle aus den Bussen klettern, spuckten einst die Nahverkehrszüge Tausende Pendler aus, die in die nahen Betriebe pilgerten. Güterwaggons wurden abgekoppelt und zuckelten mit ihrer Fracht ins ausgedehnte Industriegebiet Unter dem Birkenkopf.

Und was ist davon übrig geblieben? Wenn man einige Meter Fußmarsch nicht scheut und über Absperrgitter linst, dann sind auf diesem gesamten Gelände nur noch drei Relikte zu entdecken: zwei Stellwerke – das schönere, ursprüngliche kurz vor dem Hasenbergtunnel aus dem Jahr 1927, das zweite vielleicht 250 Meter entfernt, errichtet im Jahr 1954. Und dazwischen ist sogar noch die Bahnsteigkante des einstigen Gleises 1 des Westbahnhofs zu erahnen.

Herbert Medek lehnt am Zaun neben den Bahngleisen und blickt einem durchrauschenden IC nach Zürich hinterher, der im Hasenbergtunnel verschwindet. „In diesem Stellwerk wurden einst die Weichen gestellt“, sagt der Leiter der städtischen Denkmalbehörde und ahmt jene wuchtige Bewegung nach, mit der per Muskelmasse der Hebel nach unten gedrückt wurde, um über Drahtseilzug die Hunderte Meter weit entfernten Weichen auf mechanischem Weg zu verändern. Später diente das Gebäude als Unterkunft für Rangierarbeiter.

Der renommierte Stuttgarter Designer und Grafiker Kurt Weidemann, bekannt durch Kreationen für Daimler und Porsche oder durchs veränderte Signet für die Deutsche Bahn, kaufte im Jahr 2000 das Gebäude und richtete es als Atelier und Ideenwerkstatt ein. Oben auf dem Dach gibt’s bis heute sogar noch einen Ausguck für die Bahnarbeiter.

Am 1. September 1879 war es, als die Gäubahn von Freudenstadt nach Stuttgart von der Königlich Württembergische Staatseisenbahn eröffnet wurde. Seinerzeit hieß die Station unterhalb des Birkenkopfs noch Hasenberg. Dieser Bahnhof wurde für den Personentransport immer wichtiger. „Stuttgart hat sich im 19. Jahrhundert verneunfacht“, sagt Medek, „immer mehr Menschen sind vom Land in die Stadt gezogen.“ Lag der Bahnhof anfangs noch weit außerhalb der eigentlichen Stadt - „die Hänge waren ja nicht bebaut, da hat keiner gewohnt“, so Medek -, so wuchs die Bebauung im Stuttgarter Westen die Hügel hinauf und immer näher an die Station, die am 1. Mai 1895 in Westbahnhof umbenannt wurde.

Viele landwirtschaftliche Erzeugnisse mussten ebenfalls aus der Provinz in die wachsende Metropole geschafft werden, zugleich wurden die dort hergestellten Industrieerzeugnisse oft in weit entfernte Gebiete transportiert. Einer der Umschlagplätze war der Westbahnhof, der den Güterverkehr am Hauptbahnhof entlasten sollte. Hinter dem Bahnhof entwickelte sich ein großes Industriegebiet – mit Altpapier- und Schrotthändlern, Kohlen- und Kartoffelhandel oder einem Betonwerk.

Die Stuttgarter Straßenbahnen banden den Westbahnhof 1899 an ihr Netz, „die Linie ging noch weiter bis hoch zum Birkenkopf“, sagt Medek. Der Stadthistoriker hat natürlich ein paar Anekdoten parat: So hat der Schaffner in der Straßenbahn geguckt, wann der Zug mit den Arbeitern eintrifft, die in die Fabriken im Westen wollten. „Karle, sie kommet!“, rief er umgehend dem Strambefahrer zu, damit der sich zügig vom Acker mache, ehe die neuen Passagiere da waren – „er hätte die ja sonst alle abkassieren müssen, so geht jedenfalls die Legende“.

Diese Zeiten sind lange vorbei. Der baufällig gewordene Bahnhof wurde 1960 durch einen Flachbau ersetzt. Das Ende des Westbahnhofs allerdings kam mit der S-Bahn, die 1985 bis Vaihingen und Böblingen verlängert wurde. 1993 wurde dann auch der Güterverkehr eingestellt. Der Westbahnhof wurde abgerissen, das Areal ist mit Bürogebäuden, Supermärkten oder anderen Geschäften bebaut worden.

Immerhin, mit dem Stellwerk von 1927 ist eines der schönsten Bauwerke von damals erhalten geblieben. Kurt Weidemann hat es bis zu seinem Tod 2011 im Alter von 88 Jahren als Atelier genutzt. Seit zwei Jahren betreiben Alexander Stein und Christoph Keller aus dem Schwarzwald, die mit ihrem Gin und ihrer Black Forest Distillers GmbH überregional für Furore sorgen, das Stellwerkhäuschen (Adresse Am Westbahnhof 7) als Stuttgarter Dependance ihrer Firma.

Medek, der in Böblingen lebt, entscheidet sich übrigens ab und zu für einen erhaschenden, nur sekundenlangen Blick aufs Stellwerkhäuschen – nämlich durch die Fahrt mit dem Regionalzug vom Hauptbahnhof auf der Gäubahn über den Westbahnhof (natürlich ohne Halt) bis Böblingen. „Das sind phantastische Perspektiven auf die Stadt; vier Zonen bis Böblingen, und zurück kann man ja die S-Bahn nehmen. Meine Empfehlung: einmal tagsüber die Fahrt machen und einmal nachts. Abends der beleuchtete Talkessel – da brauch’ ich nicht nach Paris, um den nächtlichen Lichterglanz zu bewundern.“ Der Zug braucht knapp 20 Minuten bis Böblingen, die S-Bahn trotz kürzerer Strecke zwei Minuten länger – da sie ja öfter halten muss. „Wenn ich nachmittags am Hauptbahnhof zu tun habe, dann schau ich oft, ob ich abends mit dem Zügle heimfahren kann“, sagt Medek. „Da habe ich immer wieder ein wunderbares Gefühl des Verreisens – und das zum Feierabend.“