Die wahre Mitte Stuttgarts am Calwer Platz Foto: Leif Piechowski

Auf Spurensuche mit Hilfe unserer Leser: Viele Geschichten sind in den vielen Winkeln der Stadt verborgen. Diesmal geht es um die geografische Mitte der Landeshauptstadt.

Stuttgart - Seine Mitte zu finden, das ist schwierig. Man kann einen Guru mit der Suche beauftragen, man kann zur Psychoanalyse gehen, ein inniges „Ohhhm“ soll manchem schon geholfen haben, man kann sich aber auch der Wissenschaft anvertrauen. So wie Stuttgart. Der Stuttgarter Verschönerungsverein und der Schwäbische Heimatbund fanden im Jahr 2009, Stuttgart sei mittelos. Sie beauftragten das Stadtmessungsamt und die Universität Stuttgart mit der Suche. Und mittels 5000 Messpunkten gelangte man zur Erkenntnis: Sie befindet sich – und das ist kein Witz – am Eingang zur Stadtbahn-Haltestelle Stadtmitte.

Wo genau, das erschließt sich dem Suchenden allerdings nur mittelprächtig. Am Calwer Platz am oberen Ende der Calwer Passage muss man schon sehr genau hinschauen, um die Plakette des Bildhauers Markus Wolf zu sehen. Die Bronzetafel ist in den Boden eingelassen: Sie markiert aber nicht die eigentliche Mitte, sondern weist nur darauf hin. Denn der Nabel Stuttgarts befindet sich bei exakt 9 Stunden, 10 Minuten, 19,32 Sekunden östlicher Länge und 48 Stunden, 46 Minuten, 30,33 Sekunden nördlicher Breite – und damit 15 Meter von der Plakette entfernt. Was auf der Tafel selbstverständlich gebeichtet wird. Ein Pfeil weist auch in die Richtung des richtigen Mittelpunkts.

Folgt man nun dem Pfeil, schreitet die 15 Meter ab, landet man auf einer Treppenstufe, mit sehr großen Schritten bei einem Mülleimer neben der Rolltreppe. Das wirkt nicht sehr glamourös, fast als wäre es mit dem Mittelmaß gemessen. Doch klingt so ein Mittelpunkt ja oft glamouröser, als er ist. So liegt der Mittelpunkt Deutschlands je nach Forschungsmethode in Niederdorla, Krebeck, Flinsberg, Silberhausen oder Landstreit. Die fünf Orte liegen zwischen Thüringen und Niedersachsen und beanspruchen allesamt den Titel: Deutschlands Mitte.

Eigentlich müsste das Resultat ja eindeutig sein, doch ist die Wissenschaft auch nicht immer eindeutig. Silberhausen ist der Favorit der Handwerker. So gab es etliche Mittelsmänner, die die Umrisse der Bundesrepublik mit einer Laubsäge ausschnitten und die Holzplatte auf einer Spitze ausbalancierten. Der Schwerpunkt lag bei Silberhausen. Geodäten der Uni Bonn errechneten Flinsbeck, ihre Kollegen aus München bügelten Deutschland flach und landeten in Krebeck. Landstreit wiederum gilt als Mittelpunkt, vermisst man nur die Landfläche ohne die Zwölf-Meilen-Zone vor der Küste. Der Verband Deutscher Schulgeografen weiß allerdings, dass der Mittelpunkt Deutschlands in Niederdorla liegt, da gibt’s sogar einen Gedenkstein, eine Mittelpunkt-Linde und eine Mittelpunkt-Kneipe.

In Stuttgart gibt’s dafür einen Mittelpunkt-Mülleimer. Früher immerhin, da gab’s auch mal einen Mittelpunkt-McDonald’s hier. Längst schon ist er ausgezogen, aber als er Ende der 1970er Jahre als erster McDonald’s in der Innenstadt aufmachte, standen die Teenager Schlange für einen Hamburger. Da war das für viele wirklich der Mittelpunkt der Stadt. Mittlerweile steht auch die angrenzende Calwer Passage leer. Sie ist schon längst an den Rand gerückt.

Insofern ist Stuttgarts Mitte durchaus bezeichnend für diese Stadt. Hat es doch der Schwabe besonders schwer, seine Mitte zu finden; ist ihm die Dialektik in die Wiege gelegt, irrlichtert er immer zwischen den Polen, bemüht die Widersprüche zu vereinen: Er ist verhockt und weltläufig, Grübler und Schaffer, engstirnig und eigensinnig, behäbig und revolutionär. So wie Stuttgart selbst. Die Stadt ist urban und ländlich, grau und grün, voller Wengert und Autos, lebendig und verschnarcht. So gesehen würde es einen nicht wundern, wenn der Mittelpunkt Stuttgarts wanderte.