Szene aus Edward Clugs Ballett „No Men’s Land“ Foto: Stuttgarter Ballett

Das Stuttgarter Ballett bietet derzeit eine spannende Versuchsanordnung: Demis Volpis neues Stück ist Damensache, Edward Clug bittet wie Maurice Béjart nur Männer zum Tanz. Jubel gab’s für alle reichlich. Doch wie jedes Geschlecht hat auch der neue Ballettabend Stärken und Schwächen.

Was passiert, wenn man zwei Dutzend Männer in einen Ballettsaal sperrt? Der Choreograf Edward Clug hat’s ausprobiert; die Idee dazu kam von Stuttgarts Ballettintendant Reid Anderson. Das Resultat kann nun als Teil des Ballettabends „Fahrende Gesellen“ im Opernhaus besichtigt werden. Der Mann an sich, so haben Clug und seine 21 Tänzer beim Nachdenken übers eigene Geschlecht herausgefunden, geht so lange keinem Konflikt und keiner Karriereoption aus dem Weg, bis er auf einen Stärkeren trifft.

Nichts Neues also. Doch Edward Clug setzt seine Reise ins „No Men’s Land“, so der Titel seines nunmehr dritten Stücks für die Stuttgarter, so dramatisch, effektvoll und höchst präzise in Szene, dass sich auch frau seinen kritischen Erkundungen gern anschließt. Wie seine Tänzer mit expliziten Gesten Macht und Unterlegenheit ineinanderfließen lassen, ist eine Lehrstunde in Sachen Körpersprache, die man sich prägnanter nicht wünschen kann.

Ist Venus schaumgeboren, so entsteigt der Mann Qualm und Rauch. Schöne Bilder gibt das, wenn Tänzer aus dem Wabern auftreten und markantes Licht Wolkentürme baut. Voller Unheil steckt nach Clugs Lesart Männergeschichte - und so beginnt sein Stück auch: Mit einer bedrohlichen Reihe von 20 Tänzern im Gegenlicht. Muskeln ballen sich, als das Licht von oben kommt. Milko Lazars eigens komponierte „Ballettsuite für Cello und Orchester in fünf Sätzen“ lässt marschieren; auch Thomas Mikas Kostüme, die Wollgamaschen über lockere Hosen ziehen, wirken soldatisch. Später hängen 20 Mäntel vom Bühnenhimmel, und wie Clug sie umtanzen und ausräuchern lässt, fasst alle Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts.

Clug ist ein Choreograf, der Licht wie einen Meißel benutzt und Ballettvokabular wie ein Hochseilartist handhabt, mal beschleunigt, mal verlangsamt, mal witzig gebrochen. Er lässt den Körper mit betonten Armbewegungen um Gleichgewicht kämpfen, von Brent Parolin in einem Solo schön demonstriert. Das ist spannend zu sehen, dramatisch vom Staatsorchester unter James Tuggle ausgemalt. Doch spätestens beim zweiten Aufmarsch fehlt es an Inspiration, wünschte man sich ein bisschen mehr Virtuosität, die Clug mit Bedacht am kurzen Zügel hält. Eine bildgewaltige Verbeugung ist ihm trotzdem geglückt: „Das Stuttgarter Ballett ist weltweit berühmt für seine exzellenten männlichen Tänzer“, so Clug.

Was passiert, wenn sich ein Choreograf mit 25 Damen in den Ballettsaal zurückzieht, weil ihn die Arbeit auf Spitze reizt? Demis Volpi, nach dem Erfolg von „Krabat“ zum Haus-Choreografen geadelt, hat sich für sein neues Stück diese Konstellation gewünscht, die nun dem Abend Spannung verleiht. Doch wer sich von dem Argentinier filigrane Kollektive erhofft, eine moderne Version von „Schwanensee“ oder ähnliches, wird enttäuscht. Volpi geht es nicht so sehr um Tanztechnik. Mit dem Spitzenschuh will er vielmehr eine Idee bebildern. Er führt die Füße seines grau geschminkten, grau gekleideten Damenkollektivs wie Zeigestöcke, die spitz und mit nachdrücklichem Toktoktok hervorschnellen, um die Ausreißerin in ihrer Mitte zu ermahnen, zurückzurufen.

Mit Erfolg? Weil Volpi sein Stück vom Ende her denkt, bleibt sein Ausgang offen. Das ist eine seiner Stärken. Hat die Menge sich das aufbegehrende Individuum wieder einverleibt? Mit dem Blick auf eine leere Bühne, und dem dröhnenden Spitzenschuh-Toktoktok aus den Seitengassen entlässt der Choreograf sein Publikum, das sofort das Vakuum mit Bravo-Rufen füllt.

Neben dieser ungewöhnlichen Dramaturgie verblüfft „Aftermath“ vor allem durch eine starke Solistin. Hyo-Jung Kangs Aufbegehren gegenüber der Masse trägt dieses Stück, dessen Konstellation zu wenig Fragen offen lässt, keine Zwischentöne findet und sich auch optisch in den Kostümen von Katharina Schlipf schlicht gestaltet. Wie in „Krabat“ ordnet Volpi auch hier der Freiheit den Tanz zu. Die unfreie Masse bewegt sich unter Zwang. Wir sehen wiederkehrende Gesten, ein Gefangenen-Chor. Seine sich zu bedrohlichen Haufen klumpende Präsenz wirkt, als habe Volpi die grauen Herren aus Michael Endes „Momo“ einer Geschlechtsumwandlung unterzogen.

Getrieben von der kraftvollen, nervös springenden Rhythmik von Michael Douglas’ Auftragskomposition, zeigt uns Hyo-Jung Kang in ihren spinnenförmig den Körper zerdehnenden Bewegungen, welche Zweifel einen Künstler umtreiben können. Aber auch welches Glück, wenn er findet, wenn er bei sich ist. Nichts, auch keine grauen Damen können diese Frau trotz ihrer Fragilität stoppen. Und so darf man in der so schön tanzenden Koreanerin sicherlich ein Alter Ego des Choreografen sehen.

Was wird bleiben von diesen Uraufführungen? Wird sie nach vier Jahrzehnten jemand neu befragen wie an diesem Abend Maurice Béjarts zu Mahler choreografierte „Lieder eines fahrenden Gesellen“? Lang hat Reid Anderson daran gearbeitet, diesen Pas de deux, seit 1976 im Stuttgarter Repertoire, zurück auf die Bühne zu holen. Wer Jason Reilly als Gesellen und Evan McKie als seinen Begleiter sieht, versteht, warum. Die Fragen, die Clug und Volpi drängend formulieren, sind hier weiser Einsicht gewichen. Virtuosität wird mit einer Melancholie zelebriert, die trotz altmodischer Gesten anrührt. Der eine beobachtet, während der andere noch einmal Erfüllung sucht. Wie sich beide wandeln, einer vom Schutzengel zum Todesboten, der andere vom Aufbrechenden zum Ankommenden, wie sie innere Monologe in makellosen Tanzmomenten nach außen tragen, ist große Kunst, die bleibt.

Weitere Termine: 25. und 26. April, 7., 9., 25., 29. und 31. Mai sowie am 2. und 3. Juni - Lust auf mehr Ballett? Besuchen Sie unseren Veranstaltungskalender.