Fast wie „Schwanensee“: Ballettschüler aus Monte-Carlo tanzen Marco Goecke Foto: Alice Blangero

Marco Goecke, Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts, ist international gefragt. Nun zeigt er mit Stücken für den Nachwuchs in Monte-Carlo und Berlin, wie einfühlsam er sich in seine Interpreten hineinversetzten kann.

Stuttgart - Ein Duo sollte es ursprünglich sein, wenn möglich zu Musik von Paganini. Am Ende war’s ein Ensemblestück, choreografiert zu einem Song von Nina Simone. Der Grund: Marco Goecke fand alle Eleven gut, und da ihm der „Sinnerman“ ohnehin sinnvoller erschien als eine Virtuositätsvorlage aus der Vergangenheit, hat sich „All along dem day“ zu einem richtigen Stück ausgewachsen, mit dem die Staatliche Ballettschule Berlin in jeder Hinsicht punkten kann.

„The Contemporaries im Hier und Jetzt“ nennt sich noch etwas umständlich ihr neues Programm, das der Goecke-Uraufführung das „Concierto Madrigal“ von Nacho Duato und die „Sechs Tänze“ von Jirí Kylián an die Seite stellt und am Ende mit einer Ravel-Interpretation von Gregor Seyffert aufwartet: allesamt aufregend getanzt und abwechslungsreich in ihrer Zusammenstellung.

Beunruhigend sind Goeckes Ballette immer

Keines der Werke lässt allerdings die Junioren so überzeugend ausschauen wie das des Stuttgarter Haus-Choreografen. Kein Wunder, scheint er sich selbst in noch unerfahrene Interpreten so einfühlen zu können, dass sie sich in seinem Stück wiederfinden – und damit ihre Sehnsüchte, Träume, vielleicht auch ihre Ängste, wenngleich in verwandelter Gestalt. Stimmig erleuchtet von Udo Haberland, lassen sich die „Riesenkrabben“, von denen in der Probe noch andeutend die Rede war, nicht unbedingt mehr als Nachtmahre erkennen.

Beunruhigend sind Goeckes Ballette immer, und das ist nicht allein in der Schwärze begründet, die ihnen eigen ist. Auch die Schnelligkeit der Schritte, vor den Hintergrund einer extrem langsamen Geste gesetzt, erzeugt einen Sog, dem sich kein Betrachter entziehen kann – ohne wirklich zu begreifen, wie ihm geschieht, sieht er sich mitgerissen von einer Choreografie, die alles Menschenmögliche assoziiert. Und mehr als das: Wie auf der freien Wildbahn beschnüffelt Katharina Nikelski – eine Tänzerin, von der man noch hören wird – ihren Partner Gregor Glocke erst einmal, bevor sie ihn wirklich berührt. Goecke ist eben nichts Tierisches fremd.

Das ist auch bei „Les lacs des cygnes“ der monegassischen Académie Princesse Grace nicht grundsätzlich anders, für die Goecke nicht nur einen Walzer beigesteuert hat, sondern auch den „Schwarzen Schwan“ – beides Uraufführungen im Rahmen einer Schulsoirée, in der sich so unterschiedliche „Schwanensee“-Versionen wie von Mats Ek, Lew Iwanow, Jean-Christophe Maillot und Michel Rahn zu einem Ganzen vermischen. Schließlich sollen unterschiedliche Ausdrucksbereiche der Ballettausbildung erschlossen werden, und die eines Goecke gehen unter die Haut, die auch hier schweißnass zu sehen ist.

Sein Pas de deux ist niemals beziehungslos

Alexsandro Akapohi und Amanda Do Vale Goulart de Paula Lana paaren sich zwar erst auf Distanz. Aber wenn ihre Nähe ganz körperlich „greifbar“ wird, kann einem schon mal ein kalter Schauer über den Rücken laufen. Denn selbst wenn Goecke keine Geschichte erzählt, bleibt sein Pas de deux niemals beziehungslos. Tschaikowskys Musik, vom jungen Orchestre International de Monte-Carlo mit jugendlichem Impetus realisiert, stiftet noch immer einen Zusammenhang, und die angehenden Tänzer füllen ihn mit ihren Greiferhänden und Gefühlen, als wollten sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Doch da ist Goecke vor. So konkret würde er nie choreografieren wollen. Lieber öffnet er noch unerforschte Freiräume seiner Fantasie.

Das ist auch beim Walzer im ersten Akt der Fall, bei dem zwischenzeitlich schon mal eine Beinbewegung erstarrt. Wieder aufgetaut, scheint sich der Ensemblekörper insgesamt so zu erweichen, dass man sich um seine aufrechte Haltung sorgen muss. Eine Sekunde später sieht der Tanz allerdings wieder ganz anders aus, und ohne dass man jemals den Eindruck gehetzter Eile gewinnt, entwickelt sich die „Valse“ so virtuos wie variationsreich, dass sich die Lust am Zuschauen dabei nicht erschöpft, sondern sich immer wieder erneuert. Verblüfft fragt man sich, wie denn ein „Schwanensee“ insgesamt von Marco Goecke aussehen könnte. Unvorstellbar, meinen manche. Aber das haben sie schon vom „Nussknacker“ gesagt, und der ist ihm grandios gelungen.