„Angst ist beeindruckender als Liebe“, sagt Marco Goecke. Foto: die arge lola

Marco Goecke ist der Choreograf des Jahres 2015. In dem am Donnerstag erscheinenden Jahrbuch der Zeitschrift „Tanz“ wird der Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts als ein „Balletterneuerer“ gewürdigt.

Stuttgart - Marco Goecke sei einer, der mit „seinen überbordenden, auch albtraumhaften Tanzfantasien ins Zentrum der Wahrnehmung von Presse und Publikum gerückt ist“. So begründet die Zeitschrift „Tanz“ die Auszeichnungs Goeckes. Kein Wunder angesichts all der Werke, die der gebürtige Wuppertaler allein in diesem Jahr geschaffen hat: „Thin Skin“ für das Nederlands Dans Theater, „Cry Boy“ am Münchner Gärtnerplatztheater, „Le Chant du Rossignol“ in Stuttgart, „Lonesome George“ für das Ballett am Rhein, zwei Beiträge für „Les Lacs des Cygnes“ an der Académie Princesse Grace Monte Carlo sowie „All Long Dem Day“ für die Staatliche Ballettschule Berlin. Derzeit arbeitet Goecke an einem Solo für Thomas Lempertz, das im Rahmen von „Greyhounds“ der Gauthier Dance Company uraufgeführt werden soll. Stücke für das NDT und das Stuttgarter Ballett sind in Vorbereitung. .

Herr Goecke, das „Tanz“-Jahrbuch hat das Motto „Große Gefühle“. Inwieweit ist Ihre choreografische Arbeit von Gefühlen abhängig. Ist sie Ausdruck von Gefühlen, und wenn ja: von welchen?
Natürlich kommen Gefühle darin vor. Es geht nur um Gefühle. Aber das Interessante daran ist, dass sie niemals vordergründig sind, sondern sich eigentlich bei einer beinahe kalten Formsuche entwickeln. Meine Arbeit hat erst mal mit Form zu tun. Das Ästhetische ist mir wichtig. Dass sie am Ende ein Gefühl durchdringt, kann ich mir auch nicht erklären. Es hat für mich etwas von einem Geheimnis.
Das Gefühl entsteht ganz losgelöst von irgendeiner Absicht?
Anscheinend. Ich erlebe das nur in dem, was mir andere darüber erzählen, was sie dabei gefühlt haben, und bin immer wieder darüber überrascht, weil ich das nicht fühle. Nicht fühle, wenn ich es mache, aber wahrscheinlich vorher einmal gefühlt habe, um es dann so zeigen zu können. Die Arbeit selbst ist eine gefühllose Sache.
Ganz gefühllos kann sie nicht sein, wenn sie einem Vergnügen bereitet.
Sie macht Spaß, weil ich irgendwie ein Puzzle zusammensetze. Ein Puzzle, das zunächst einmal sehr äußerlich ist und etwas Dekoratives hat – so wie eine Zeichnung von Picasso, dem ich mich nahe fühle. Das Gefühl dabei hat immer viel mit meiner Angst zu tun, mit meiner Empathie, mit meiner Sensibilität, mit etwas, das irgendwie auftaucht, aber ganz schlecht einzukreisen und zu planen ist.
Es geht Ihnen nicht darum, Angst, Freude, Ärger, Ekel, Trauer, Überraschung darzustellen? Basisemotionen, die nach Einschätzung des amerikanischen Anthropologen Paul Ekman kulturunabhängig erkannt werden?
Nein. Ich suche nur nach den Menschen, die da tanzen. Nach Power, nach Rebellion. Aber ich denke nicht darüber nach, wie ich eine dieser Gefühlsmomente treffen könnte. Darüber habe ich noch nie nachgedacht, wie sich eine Traurigkeit herstellen lässt . . .
. . .  sondern Sie entwickeln Formen, denen irgendwelche Gefühle innewohnen.
Ganz offensichtlich. Für mich hat das etwas Unerklärliches. Ein Grundgefühl habe ich, wenn jemand etwas im Tanz erreicht – so wie jüngst in Monaco, wenn die jungen Leute plötzlich etwas von sich preisgeben. Dann freue ich mich einfach. Aber das hat mit dem Stück nicht wirklich was zu tun.
Wenn während der Entstehung nicht der Eindruck eines Gefühls aufkommt: Fühlen Sie dann etwas, wenn Sie eins Ihrer Stücke aus der Distanz des Zuschauers betrachten?
Kann ich das? Ich bin kein Zuschauer. Schon gar nicht der meiner eigenen Arbeit. Ich sitze lieber bei den Tänzern hinter der Bühne und bin so irgendwie dabei.
Aber wenn Sie älteren Stücken begegnen wie zum Beispiel „Äffi“, begegnen Sie ihnen doch ganz automatisch in der Rolle eines Betrachters.
Wenn ich „Äffi“ sehe wie von Marijn Rademaker bei der letzten Silvester-Vorstellung, frage ich mich, was mich da berührt: Ist es der Mensch, der da tanzt, oder die Sache an sich? Ich glaube, in dem Falle hat mich Marijn berührt, der nach neun Jahren ganz auf den Punkt kam. „Äffi“ ist kein einfaches Solo. Da scheint mir das Gefühl transportiert in die andere Person. Die Person hat die Möglichkeit, Gefühle auszudrücken, die mich dann berühren können. Nicht die Sache an sich, die Schritte.
Auch nicht Gefühle, die ein Interpret während der Entstehung einer Choreografie hat?
Darüber wird natürlich nicht viel gesprochen. Aber ich erlebe es immer wieder, dass sich die Tänzer in der Form ausleben, wie sie sagen, obwohl sie von mir so streng konzipiert ist und nicht zu dem Zweck, sich darin auszuleben. Trotzdem empfinden sie das. Diese Resonanz finde ich spannend.
Ist diese Resonanz immer ähnlich?
Ja. Zu meinen größten Erfolgen zählt die Resonanz, die ich immer von den Tänzern erhalte. Die Leute mögen es, mit mir zu arbeiten.
Sie fühlen sich wohl, obwohl die Angst in Ihrem Gefühlskatalog durchaus eine prominente Stelle einnimmt. Auch in der Begründung der Jahrbuch-Redaktion ist nicht zufällig von „albtraumhaften Tanzfantasien“ die Rede.
Angst ist das beeindruckendste Gefühl, das ich je erlebt habe. Mehr als die Liebe. Eine frei flottierende Angst, die sich an vielem festhaken kann.
Und gleichzeitig eine treibende Kraft?
Ja – und zugleich eine große Qual.
Dabei wirken Sie absolut gelassen bei Ihrer Arbeit, sozusagen angstfrei, während andere Choreografen angesichts Ihres Pensums womöglich in Panik geraten würden.
Das tue ich auch, wenn ich darüber nachdenke. Nicht während der Arbeit. Das Gestalterische ist die Erlösung aus einem diffusen Gefühl, weil ich dann konkret mit Menschen zu tun habe. Da wird Angst auch zu einer Form.
Aber es ist nicht wirklich Angst vor dem Choreografieren?
Ich habe Angst, dass mir etwas nicht zukommt, worauf ich mich jetzt schon so viele Jahre verlasse. Ich mache ja nichts. Ich plane nichts. Aber ich bin nach wie vor interessiert an der Bewegung. Ich bin froh, dieses Vokabular zu haben. Ein Vokabular, mit dem man sich immer wieder beschäftigen kann. Da kann mir nichts passieren. Aber die Ideen davor, oder wenn ich abends ins Bett gehe, das ist alles schrecklich.
Spüren die Zuschauer diese Angst?
Viele finden jedenfalls meine Sachen zu düster. Auch meine Zeichnungen. Einige sind auch enttäuscht, dass sie vordergründig nicht die Schönheit geboten bekommen, die sie vom Tanz erwarten. Doch was für manche etwas Albtraumhaftes hat, hat für mich etwas Nobles. Eine Erlösung in Schönheit. Ich habe neulich ein paar Gedichte von Nelly Sachs vorm Nachmittagsschlaf gelesen. Ein paar Stunden später, im Zustand meines Wachseins, sind mir deren Schönheit, ihre Tiefe, ihre Wahrheit plötzlich bewusst geworden, ohne dass ich mich konkret an ein einzelnes Gedicht erinnerte. Die Summe daraus war so etwas Intensives. Und ich habe gedacht: Toll, dass es so etwas gibt.
Im Grunde ein ähnliches Empfinden wie bei Ihren Choreografien, bei denen man auch nicht jedes Detail benennen kann.
Ich hoffe es. Irgendetwas muss da hoch schwimmen, so wie ich das letzthin bei Nelly Sachs habe erleben können. Es sind ja keine einfachen Gedichte. Aber die Grundstimmung, die dabei entstand, hatte etwas Tiefes und Wahres. Toll, dass jemand, der fast vergessen ist und längst tot, so etwas noch bewirkt.
Eine Reaktion, die auch Sie sich auf Ihre Stücke wünschen?
Das wäre schön, ja nachgerade ideal. Schließlich ist der Tanz im Vergleich zu den Zeichnungen so vergänglich. Er existiert ja nicht wirklich, sondern nur in dem einen Moment, wo man tanzt.

Info

Das Jahrbuch „tanz – Große Gefühle“ ist zum Preis von 25 Euro bei „Der Theaterverlag - Friedrich Berlin“ erschienen. Mehr unter www.kultiversum.de/Tanz