Auch nach dem größten Leid lächelnd: Alicia Amatriain als Blanche DuBois mit Jason Reilly als Stanley Kowalski Foto: © Stuttgarter Ballett

Getanzte Überblendungen, ein Changieren zwischen Zeitebenen und Klangwelten, zwischen Wunsch, Wirklichkeit und Wahn: Das Stuttgarter Publikum feiert die nahezu neu besetzte Wiederaufnahme von John Neumeiers „Endstation Sehnsucht“.

Stuttgart - Erinnerungsfetzen, verblasste Bilder aus anderen Zeiten, vage Vorstellungen von dem, was einmal gültig war: Wer über Neumeiers 1983 entstandenes Ballett „Endstation Sehnsucht“ spricht, hat – ein gewisses Alter vorausgesetzt – Marcia Haydée vor Augen. Unauslöschlich! Für die damals 46-jährige Ballettdirektorin und große Tragödin unter den Ballettstars hatte ihr Hamburger Kollege John Neumeier die abgründige Rolle der Blanche DuBois geschaffen. Richard Cragun war Stanley Kowalski – ein kraftstrotzender Egomane, der mit seiner langjährigen Lebens- und Bühnenpartnerin tat, was die Grenzen des Erlaubten und Zumutbaren sprengte, zumal auf einer Ballettbühne.

Die urgewaltigen Bilder dieses ersten Gespanns überlagern jede spätere und naturgemäß anders besetzte „Endstation“-Vorstellung. Auch wenn vor nunmehr elf Jahren Alexandra Ferri als Gast und dann auch Bridget Breiner oder Maria Eichwald äußerst einprägsame Blanche-Interpretationen lieferten. Bei der aktuellen Wiederaufnahme im Schauspielhaus saß am Samstag erstmals Alicia Amatriain auf dem weißen Krankenbett – mit ihren 34 Jahren so viel jünger als die Haydée damals –, immer wieder ganz verspielte Lulu und strahlend auch nach dem größten Leid.

Für Zuschauer, die Neumeiers getanzte Adaption von Tennessee Williams Südstaatendrama nicht zum ersten Mal erleben, ist es zum Verrücktwerden: Als Bräutigam und männliches Dreiergespann aus dem Flamingo-Hotel mit einem unflätig soufflierenden Robert Robinson, der sich in Blanches Schoß verbeißt, lenken die Geister der Vergangenheit nicht nur das Bühnengeschehen. Ungreifbar wie Spukgestalten mischt sich auch manch eine Erinnerung an die Urbesetzung in die Wahrnehmung und verstärkt die in geradezu filmischer Qualität inszenierten Überlagerungen der Zeit- und Raumebenen, mit denen Neumeier die schizoide Innenwelt seiner Protagonistin sichtbar macht.

Abgesehen von der Rolle des Stanley, erneut mit eindringlicher Präsenz verkörpert von Jason Reilly, haben Neumeier und der Stuttgarter Ballettchef Reid Anderson sämtliche Figuren neu besetzt und gut gewählt. Das gilt vor allem für das Energiebündel Elisa Badenes als über den Bühnenrand hinaus flirtende Stella, die in New Orleans zu den schrägen Klängen von Alfred Schnittkes Erster Sinfonie zum It-Girl mutiert. Zwei Tempi bestimmen ihr Dasein: eine lasziv ermattete Langsamkeit, mit der sich die Lustversessene ihrem Mann hingibt. Und eine vom Großstadt-Rhythmus getriebene Hippeligkeit, mit der sie ihre Selbstinszenierung als unermüdlich-unwiderstehliche Tanzmaus vorantreibt. So ungebunden locker wie ihre Locken und scheinbar schwerelos flattern ihre Arme und Beine durch die Luft.

David Moore – erstmals seit seiner Sprunggelenkverletzung wieder auf der Bühne – brilliert wandlungsfähig als Blanches Bräutigam Allan, Zeitungsjunge und Arzt mit präziser Darstellung. Wie er zu Prokofjews „Visions figuratives“ (am Flügel: Andrej Jussow mit entrücktem Klang) und umgeben von schattenhaften Gestalten den noblen Kavalier verkörpert, den sich Stella erträumt, um dann für einen Moment an der Schulter seines Freundes (Martí Fernandez Paixa) den Platz zu finden, an dem er sein kann, wie er ist: Moors Bewegungen sind durch und durch erzählerisch, ob klein und fein oder raumgreifend und energiesprühend. Als stilisierte Hochzeitsgäste und pulsierende Stadtbevölkerung mutieren die Mitglieder des Corps zu bewegten Tableaus, die Neumeiers wirkungsvolle Ausstattung ideal ergänzen.

Mit Allans Homosexualität konfrontiert, sprengt Alicia Amatriain als Blanche ihre Fassade der Wohlanständigkeit. Kein zweites Mal wird sie so außer sich geraten. Erschütternd, wie ihr Körper zur Fratze wird und seinen angestauten Hass auskotzt. Doch schon bald trägt der Horror wieder ein Strahlen im Gesicht. Der schöne Schein, der ihre inneren Abgründe verdecken soll, verdeutlicht ihren Wahn in seiner übersteigerten Manier umso deutlicher.

Damiano Pettenella gibt Blanches Verehrer Mitch als schlichten Sportlertyp, der in der Frau seine Lehrmeisterin erkennt. Mühsam und anrührend müht er sich um die Kontrolle seiner Affekte, bis Stanley ihm die Augen öffnet und sich Mitchs Wut in einem gewaltigen Solo entlädt. In solchen thematischen Analogien zeigt sich Neumeiers dramaturgisches Genie: Zwar ist Blanche am heftigsten von Selbsttäuschung und Enttäuschung gezeichnet, aber letztlich scheitern auch Stella, Stanley, Mitch und der Wiedergänger Allen an der Unvereinbarkeit zwischen Schein und Sein. Wenn sich Reilly in der Figur des Stanley nach der stilisierten, als Gewaltakt aber hyperreal sich mitteilenden Vergewaltigung seiner Schwägerin als Sieger feiert, teilt er unterschwellig mit, wie sehr er sich davon überzeugen muss, kein Verlierer zu sein. Nicht nur mit dieser Täter-Theorie bleibt Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ aktuell.

Die Vorstellungen am 2., 4. 17. und 19. Juni sind ausverkauft. Eventuell Restkarten an der Abendkasse, 07 11 / 20 20 90.