Szene aus Demis Volpis neuem „Nussknacker“ mit Fiona McGee als Clara Foto: Filip Van Roe

Für das Stuttgarter Ballett, das ihn 2013 zu seinem Haus-Choreografen machte, brachte Demis Volpi erfolgreich „Krabat“ zum Tanzen. Bevor er hier in dieser Saison „Salome“ in Angriff nimmt, steht ein Klassiker an.

Antwerpen - Von Schnee keine Spur. Auch auf der Bühne der Stadsschouwburg, des Theaters in Antwerpen mit der größten Bühne Europas, macht sich die Erderwärmung bemerkbar. Vor dem Weihnachtsfest, das in Flandern offenbar einen Monat später gefeiert wird, liefern sich die Jungs nicht wie in anderen „Nussknacker“-Inszenierungen eine Schneeballschlacht, sondern wetzen hinter ihrem Fußball her. Die drei Mädchen wiederum treffen sich zum Gummitwist, während hinter einer riesigen Milchglasscheibe immer wieder die Schatten ihrer Eltern auftauchen, ganz offensichtlich einen Weihnachtsbaum mit riesigen Sternen bestückend.

Leichtfüßig und locker lässt Demis Volpi seine Aufführung beginnen, und wenn die dunklen Kostüme von Katharina Schlick auch eher den Chic einer Biedermeierzeit besitzen, wirkt sie doch auf eine feine Art durchaus heutig. Der Haus-Choreograf des Stuttgarter Balletts will das Märchen E. T. A. Hoffmanns ja nicht in eine unwirkliche Ferne entrücken, sondern in ihm Probleme bespiegeln, die vielleicht auch seine Zuschauer beschäftigen. Und dafür verlässt er sich bei seinem ersten Einsatz für das Ballet Vlaanderen auf die Ausstatterin, die in Stuttgart schon seinem „Karneval der Tiere“ für die Cranko-Schule und dann „Krabat“ zum Erfolg verhalf.

Für Demis Volpi ist Clara, das Kind im Mittelpunkt von „Nussknacker“, jedenfalls in einem schwierigen Alter. Noch nicht Frau, aber auch nicht mehr ganz das Mädchen, das ausschließlich mit Puppen spielt, kann sie sich zwar an dem Nussknacker erfreuen, den ihr Pate Drosselmeyer wenig später aus seinem Ärmel hervorzaubert. Gleichzeitig aber beflügelt diese männliche Figur ihre Fantasie auf eine geradezu unheimliche Weise, die sie bis in ihre Träume verfolgt.

Der Nussknacker macht Angst

Zunächst freilich ist Weihnachten angesagt, und das entwickelt Volpi ganz spielerisch spontan aus einer Familiensituation heraus, bei der abends um sieben die Welt noch in Ordnung ist. Mag sein, dass sich die eine Tante vielleicht einen zu viel hinter die nicht vorhandene Binde kippt und sich die andere als eine Naschkatze erweist, aber sobald sich der ganze Clan zum Gruppenfoto um die Großeltern vereint, deutet nichts auf irgendwelche Spannungen hin. Allein, der Nussknacker macht Clara auf eine unerklärliche Weise Angst, selbst wenn er zunächst scheinbar so possierlich auf einem Sockel steht, entweder mit seinen Beinchen klappert oder auf die Nüsse beißt.

Die eine, alles entscheidende Nuss zu knacken, die Clara symbolkräftig als ein Anhänger schmückt: Das dauert eine gute Weile. Selbst im Schlaf, in den die gar nicht so Kleine post festum fällt, kommt er aus seiner Verpuppung nicht völlig frei. Er bleibt der hölzerne Prinz wie in dem gleichnamigen Bartók-Ballett, auch wenn ihn inzwischen Wim Vanlessen mit feinem Formbewusstsein verkörpert. Kämpft gegen die Mäuse an, die zunächst automatenhaft auf der Bühne herumwuseln. Tritt durch die Türen, die ihm Drosselmeyer immer wieder hindernd in den Weg stellt. Begegnet noch einmal den einzelnen Familienmitgliedern, die sich in all die Traumfiguren verwandeln, die den zweiten Akt des Tschaikowsky-Balletts nicht immer schlüssig bevölkern.

Ein Katerfrühstück zum guten Schluss

Bis sich ihm Clara gleichsam hingibt, indem sie ihm ihre Nuss verabreicht. Im Innersten erbebend, erwacht er ihr im selben Augenblick zum Mann. Und beweist seine Mannbarkeit zuallererst in einem Pas de deux, der die Erwartungen erfüllt, die sich an das Engagement Demis Volpis knüpfen: Klassisch grundiert, schöpfen Fiona McGee und Wim Vanlessen seine Schönheit bis zur Neige aus. Um anschließend ihren Lebensbund mit einem Kuss zu besiegeln, der als Schlusspunkt gut zu einer Aufführung passt, die mit einer Art Katerfrühstück aller Beteiligten endet.

Denn ganz ist das Dreamt-Team Volpi/Schlipf dem „Nussknacker“ nicht gerecht geworden (den Glen Tuggle übrigens einfühlsam dirigiert). Drosselmeyer ist nicht zuletzt auch choreografisch Schlüsselfigur und Drahtzieher in einem. Aber letztlich gerät Alain Honorez dieser Patenonkel allzu harmlos, um den Wunschtraum Claras gleichzeitig als einen Albtraum erscheinen zu lassen. Das Ambivalente, wie es sich in der Version von Marco Goecke manifestiert, macht einem Angst. Dieser „Nussknacker“ indes unterhält immerhin ein gut gelauntes Publikum, egal ob groß und klein. Auch das muss eine(r) erst mal schaffen.