Der Turm an der Kesselstraße hätte nach Gesetz 27 Meter hoch sein dürfen. Dagegen gab es mehrere Gründe Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Im Industriegebiet in Wangen steht das erste Minarett der Landeshauptstadt. Die muslimische Gemeinde dort setzt sich dafür ein, dass die Bevölkerung den Turm nicht als Provokation versteht.

Stuttgart - Heinz Pelipjak scheint auf den ersten Blick ein Mann zu sein, der immer die Ruhe bewahrt. Der Kfz-Mechaniker hat die Motorhaube eines alten Golf geöffnet und antwortet freundlich auf die Fragen einer Kundin. Die Geschichte mit den Nachbarn allerdings, die ärgert ihn: „Jeden Freitag stellen die Leute, die zum Gebet in die Moschee kommen, alle Parkplätze mit ihren Autos zu“, sagt Pelipjak. Er hat ja nichts dagegen, dass die Muslime ihren Glauben praktizieren, aber . . .

Es ist eine Premiere: Die Moschee nebenan, hier im Industriegebiet in Wangen, hat als erste in der Stadt ein Minarett gebaut. Rund 15 Meter ragt es in die Höhe. Noch fehlen die Spitze und die Lackierung. Und bislang ummantelt den 45 000 Euro teuren Bau in der Kesselstraße auch noch ein Baugerüst. Doch der Turm steht. „Vier Wochen hat es ungefähr gedauert“, sagt Ferid Kugic. Er ist Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft, die die Moschee inmitten von Kfz-Werkstätten und Bürogebäuden führt.

Eine Frage der Politik

Kugic läuft über den Vorplatz des Gotteshauses, Bauarbeiter verlegen noch Asphaltplatten. Der Hof wird für insgesamt 299 000 Euro umgestaltet, inklusive der Kosten für das Minarett. „Eine Moschee ist eben eine Moschee“, sagt Kugic. Und zu ihr, führt er aus, gehört zwingend ein Minarett. Der Turm für den Gebetsrufer, den Muezzin, hat in Wangen allerdings eher eine ästhetische Funktion. „Es wird keine Gebetsrufe geben, auch wenn wir hier im Gewerbegebiet sind. Wir wollen die Leute nicht provozieren“, sagt der Bosnier.

Der Bau des Minaretts war nicht nur eine architektonische Aufgabe, sondern auch eine politische, sagt Kugic. Zwar habe die überwiegend aus bosnischen Muslimen bestehende Gemeinde das angrenzende Gebäude bereits im Jahr 2007 gekauft. „Doch wollten wir damals nicht zu viel auf einmal verlangen“, sagt der Chef der Gemeinde. Zudem tobte damals in der Schweiz der sogenannte Minarettstreit, der letztlich nach einer Volksabstimmung zu einem Bauverbot im gesamten Land führte.

Liberale Gemeinde

Die Zusammenarbeit mit dem Baurechtsamt in Stuttgart verlief reibungslos. Einen Antrag für den Bau hatte die Gemeinschaft bereits im November 2014 eingereicht. Laut Gesetz hätte der Gebetsturm 27 Meter in den Himmel wachsen können. Doch um die Kosten niedrig zu halten, entschieden sich die Planer für die 15-Meter-Fassung. Ferid Kugic begründet die Entscheidung auch damit, dass der Turm nicht alle Blicke in der Umgebung anziehen soll.

Womöglich hat auch ein Blick nach Esslingen zu dieser Einstellung geführt. Dort sorgte der Bau eines Minaretts für heftige Debatten im Gemeinderat. Weltanschauliche Bedenken seien hier in das Gewand von baurechtlichen Aspekten verpackt worden, kritisierte damals die Fraktion der SPD.

In Stuttgart liegen die Dinge anders. Die Islamische Gemeinschaft in Wangen mit ihren rund 600 Familien zählt zu den größten in Stuttgart. Und sie ist eine der liberalsten. Das sagt Levent Günes von der Abteilung Integration der Stadt Stuttgart. „Die Gemeinschaft engagiert sich in mehreren interreligiösen Arbeitskreisen und ist sehr aufgeschlossen“, sagt der Fachmann. „Die Mitglieder sehen Stuttgart ganz eindeutig als ihre Heimat an und nehmen diese auch voll und ganz an“, so Günes. Die muslimischen Vereine in Stuttgart seien überwiegend nach ihren Herkunftsländern organisiert.

Rund 85 Prozent der Mitglieder in Wangen sind bosnischer Herkunft, zudem engagieren sich Albaner, Türken, Araber und Pakistaner in der Islamischen Gemeinschaft.

Koranschule im Keller

Deren Chef, Ferid Kugic, sitzt kurz vor dem Mittagsgebet um 13.30 Uhr im großen Aufenthaltsraum. Früher sei das hier eine Tuning-Werkstatt für Autos gewesen, sagt er. Insgesamt eine Million Euro habe die Gemeinde investiert, um das Gebäude von Grund auf umzugestalten. „Wir haben keinen Cent von irgendwo anders genommen, sondern alles selber finanziert“, sagt Kugic.

Die Gemeinschaft bezahlt den rund eine Million Euro teuren Umbau aus den Beiträgen der Mitglieder. „Diese liegen bei 20 Euro im Monat“, sagt der Vorsitzende. Was damit finanziert wird, lässt sich im Gebäude besichtigen: Im Keller der einstigen Werkstatt liegen nun Schulungsräume für den Koranunterricht, den Imame auch in deutscher Sprache halten. Um kurz vor 13.30 Uhr setzt der Muezzin zum Gesang an und leitet das Gebet ein. Allerdings nur aus den Lautsprechern im Gebäude. Draußen bleibt es ruhig.

Hintergrund: Muslimische Gemeinde in Stuttgart

Hintergrund: Muslimische Gemeinde in Stuttgart

  • Die Gemeinde In der Landeshauptstadt leben nach Schätzungen des Statistischen Amts rund 60 000 bis 70 000 Muslime. Somit sind ungefähr zehn Prozent der Bevölkerung islamischen Glaubens.
  • Die Strömungen Muslime sind in Stuttgart in insgesamt 35 Vereinen organisiert. Schätzungen zufolge gibt es 80 Prozent Sunniten, 15 Prozent Aleviten und fünf Prozent Schiiten. Weltweit betrachtet machen die Sunniten den mit Abstand größten Teil der Glaubensgemeinschaft aus: Rund 90 Prozent aller Muslime ordnen sich dieser Gemeinschaft zu.
  • Schiiten Der Begriff leitet sich ab von Schia Ali, einer Partei, die ein Nachfahre des Propheten Mohammed begründet hatte. Sie trat dafür ein, dass nur ein Nachfahre Mohammeds dessen Nachfolge antreten darf.
  • Sunniten Der überwiegende Teil der Muslime vertritt die Auffassung, dass die Nachfolge des Propheten auch von einem Vertrauten Mohammeds angetreten werden kann: Sie wählten Abu Bakr zum ersten Kalifen nach dessen Tod im Jahre 632. Die Sunniten unterscheiden wiederum vier Rechtsschulen: Als eher konservativ und streng von der Auslegung gilt der Wahhabismus – und auch der in Deutschland bekannte Salafismus.
  • Ditib-Moschee Das größte islamische Gotteshaus in der Landeshauptstadt liegt in Feuerbach. Der Gebetsraum der Moschee hat Platz für mehr als 2000 Menschen. Außerdem hat die Moschee zwei Veranstaltungsräume und einen Innenhof, wo zusätzlich rund 1300 Personen beim Gebet Platz finden können.
  • Ibaditen Die drittgrößte muslimische Gruppe bilden die sogenannte, Ibaditen. Sie leben allerdings beinahe ausschließlich im Oman und machen dort die Mehrheit der Bevölkerung aus.