Auf der Waldau wurde 1955 vor allem Fußball gespielt, inzwischen sind Plätze für andere Sportarten hinzugekommen. Foto: Stadtmessungsamt/Plavec

Die Waldau in Stuttgart-Degerloch ist heute ein Erholungsgebiet für die ganze Stadt. Früher trafen sich hier eher die Leute aus dem Ort. Dieser Wandel hat Folgen – positive und negative.

Degerloch - Rolf Reihle muss immer wieder staunen, wenn er mal wieder auf der Waldau unterwegs ist. Der ehemalige Degerlocher Bezirksbeirat muss dann daran denken, wie alles war, als er im Altern von zwölf Jahren Anfang der 50er Jahre beim damaligen SV Degerloch seine Stollenschuhe geschnürt hatte. Im Winter hat er sie gern gegen Schlittschuhe eingetauscht. „Das waren solche, bei denen man am Rädchen drehen musste, um sie geschlossen zu kriegen“, erzählt er. Mit solchen Schuhen ging es dann auf die Natureisbahn auf der Waldau. „Da wurde einfach Wasser auf den Sportplatz gespritzt, und das ist dann gefroren. So mild wie die heutigen Winter sind, klingt das unglaublich“, sagt Reihle.

Ein Album voller Erinnerungen an damals

Vielleicht hätte er sich als Zwölfjähriger auch nicht vorstellen können, dass seine Altersgenossen in einigen Jahrzehnten ihre Kurven auf künstlichem Eis in einer Halle ziehen können. So wie eigentlich alles andere, das sich auf der Waldau nach den Worten von Reihle in den vergangenen 50 Jahren verändert hat. Der Degerlocher zieht ein Fotoalbum aus einem Regal. Er blättert zwischen den Seiten voller Fotografien in Schwarz-Weiß. Auf vielen Abbildungen ist ein Turm zu sehen. Rolf Reihle nennt ihn Degerlocher Fernsehturm, bevor es einen Fernsehturm gegeben hat. „Der Aussichtsturm auf der Waldau war bis zum Zweiten Weltkrieg das Degerlocher Wahrzeichen“, sagt er.

Der Krieg habe den Turm dann halbiert, erzählt er. Keine Bombe sei eingeschlagen, um die obere Hälfte zu pulverisieren, sondern die NS-Verwaltung entschied sich dazu, den oberen Teil des Turms abzutragen. „Die hatten Angst, dass sich alliierte Bomber daran orientieren könnten“, sagt Reihle. Nach dem Krieg standen die Degerlocher vor dem halbierten Turm und wussten nichts mehr damit anzufangen. „Dann haben sie ihn einfach ganz abgerissen“, sagt Reihle.

Irgendwann kam die ganze Stadt auf die Waldau

Ob das Ende des beliebten Aussichtsturms auch der Anfang einer Entfremdung Degerlochs von „ihrem“ Erholungsgebiet auf der Waldau war? Reihle erzählt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg eine Entwicklung eingesetzt hat, die er als Aneignung der Waldau durch die ganze Stadt beschreibt. Die Massen von Stuttgartern, die in der einen oder anderen Weise auf der Waldau Sport treiben wollten, verdrängten im Lauf der Jahrzehnte allein schon durch ihre schiere Überzahl die Degerlocher. Der Bezirk verlor so einen Treffpunkt und Rückzugsraum, der in den Schilderungen Rolf Reihles nach einem Wohnzimmer mit Rasenplatz klingt.

Er zeigt ein weiteres Foto. Auf ihm ist ein Vereinslokal auf der Waldau zu sehen. Männer mit Hosenträgern und Biergläsern sitzen auf Stühlen neben Frauen mit strengem Dutt und in hochgeschlossenen Kleidern. Einfache Leute, vielleicht noch aus den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg. So genau weiß das Reihle nicht. Das Foto ist für ihn ein weiterer Beleg dafür, welche Rolle die Waldau im Leben der Degerlocher auch noch einige Jahrzehnte später in seiner Jugend gespielt hat. „Wenn wir ein Spiel hatten, sind wir danach einfach dageblieben und haben ein Bier getrunken. Da hat man dann halb Degerloch getroffen.“ Wenn er heute mal ein Fußballspiel anschaut, sieht er dagegen keine Spieler mehr beim Bier in einer Vereinsgaststätte. „Die duschen und setzen sich ins Auto, und dann sind sie wieder weg.“ Dafür hat er Verständnis. Heute gebe es viele Möglichkeiten, seine Freizeit zu gestalten, nicht zu vergleichen mit früher. Ein Stück weit mache das aber auch die Menschen einsamer.

Wendepunkt für die Waldau in Stuttgart-Degerloch

Ein Wendepunkt für die Waldau sei die Zusammenlegung des SV Degerloch mit dem Stuttgarter Turnverein und dem Turnerbund Stuttgart im Jahr 1973 gewesen. „Das hatte politische Gründe“, sagt Reihle. Als Argument sei damals eine sehr aktuell klingende Begründung genannt worden. „Die Menschen würden lieber individuell Sport treiben, als sich in Vereinen zu engagieren, hieß es damals. Aus heutiger Sicht war das weitsichtig“, sagt Reihle.

Die Zusammenlegung ermöglichte auch eine umfassende Modernisierung der Sportstätten. Der tus Stuttgart konnte Kräfte und Finanzen bündeln und so etwa den Bau neuer Hallen stemmen. Die Waldau verwandelte sich mehr und mehr in eine High-Tech-Sport-Landschaft. Das Erholungsgebiet hatte kaum noch etwas gemeinsam mit dem Sammelsurium an Rasenplätzen, Aschenbahnen und Vereinsgaststätten aus Reihles Jugendtagen. So sehr ihn der Wandel beeindruckt, ertappt sich der Degerlocher dabei, dass er manchmal die alten Zeiten vermisst. Heute wirke die Waldau nicht mehr so heimelig wie damals. „Aber das passt vielleicht einfach besser in unsere heutige Zeit“, sagt er.

Reihle beobachtet auch, dass heute auf der Waldau Stuttgarter ganz unterschiedlicher Herkunft miteinander Sport treiben. Das zeige, wie sehr sich die Bevölkerung in der Landeshauptstadt in den vergangenen Jahrzehnten verändert habe. Und auch das Speiseangebot in den Lokalen auf der Waldau spiegele ein Stückweit wieder, dass in Stuttgart längst die halbe Welt heimisch geworden sei. Bestes Beispiel sei der „Grieche im Grünen“.

Sitzplätze in den Gaststätten wurden rarer

Das vielfältigere Angebot an Lokalen sei auch eine Folge der wachsenden Beliebtheit der Waldau bei den übrigen Stuttgartern gewesen. Für die Degerlocher hieß das wiederum nüchtern betrachtet, dass es schwieriger wurde, einen Sitzplatz in einer Gaststätte auf der Waldau zu finden. Wie sehr sich Stuttgart die Waldau angeeignet habe, zeige die Geschichte des einst aus Heslachern bestehenden Fußballvereins „Germania“, sagt Reihle. Die Fußballer trainierten wie andere Clubs nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Waldau, weil es in der Stadt keine vergleichbaren Sportstätten gab. „Das waren damals unsere Feinde, und es ging hoch her“, erzählt Reihle. Doch der Verein fühlte sich irgendwann auf der Waldau derart heimisch, dass er sich sogar entschied, seinen Namen zu ändern. Heute heißt er „Fußballverein Germania Degerloch“.