Die Kirchheimer Straße hat sich im Laufe der Jahrzehnte stark verändert. Nicht viel erinnere an früher, erzählen Anwohner Foto: Stadtmessungsamt/Plavec

Die Kirchheimer Straße ist die Hauptschlagader des Bezirks Stuttgart-Sillenbuch – bereits seit den 30ern. In unserer Luftbildserie „Stuttgart von oben“ werfen wir einen Blick auf die Route und stöbern in der Geschichte.

Sillenbuch - Erwin Beck harkt in seinem Vorgarten. Oder eher: in seinem Vorgärtle. Ein schmaler Streifen ist zwischen dem Haus von Mitte der 30er Jahre, in dem er sein ganzes Leben verbracht hat, dem Gehweg und schließlich der Kirchheimer Straße geblieben. „Früher ging der Garten bis zu dem weißen Streifen“, sagt der Mann und zeigt auf die Park-Markierung. Bis dann die Straßenbahn hier vorbeifuhr und die Kirchheimer Straße erweitert werden musste. Viele Nachbarn mussten damals ein Stück von ihrem Grund abgeben, erinnert sich der heute 80-Jährige. Früher war hier noch alles anders.

Er kann zu jedem Haus eine Geschichte erzählen

Wenig erinnert heute an die Kirchheimer Straße von ehemals, Erwin Beck aber hat alles gespeichert. Zu jedem Haus kann er eine Geschichte erzählen. Der Blick geht nach links gegenüber, in Richtung Sillenbucher Markt. „Die Tankstelle war früher auf der anderen Straßenseite. Und etwas weiter war das Kino, Alhambra-Lichtspiele.“ Sein Blick geht geradeaus. „Gegenüber hat Wolfgang Windgassen, der Opernsänger, gewohnt. Die Familie hatte ein weißes Spitzerle.“ Der Blick wandert nach rechts. „Neben Windgassens war eine Glaserwerkstatt, daneben ein Flaschner, und gleich nach der Spaichinger Straße war ein Maler. Und hinter der ersten Häuserlinie, da war alles freies Feld.“

Erwin Beck ist so etwas wie das Gedächtnis der Kirchheimer Straße. Die Erinnerungen sind lebendig. Etwa an die Gaststätte Wilhelmshöhe, dort, wo später Feinkost Böhm war und jetzt der Biomarkt ist. „Das war eine tolle Gaststätte mit einem schönen Biergarten“, sagt er. Schweinebraten mit Knödel oder mal ein Schnitzel mit Pommes, das sei was Besonderes gewesen, denn nach dem Krieg habe man zunächst nicht viel gehabt. In der Wilhelmshöhe habe man alle getroffen, „da hat man sich informiert und ist zusammengesessen“. Später habe ein Jugoslawe die Gaststätte geführt, „ein guter Wirt“, sagt Erwin Beck und nickt anerkennend. Früher, da hat jeder jeden gekannt. „Die Alteingesessenen werden weniger“, fügt er an. Nicht vorwurfsvoll oder traurig. Es ist eine sachliche Feststellung. Es verändert sich halt viel.

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Erwin Beck weiß, dass der Zahn der Zeit unaufhörlich an seiner Kirchheimer Straße nagt. Das Gebäude zwei Häuser weiter, die Nummer 95, ist verkauft, die 98 gegenüber ebenfalls, ebenso die Immobilien mit den Hausnummern 109 und 76. All diese Häuser sollen abgerissen werden, um die Grundstücke dann neu zu bebauen. Alles wird anders. Dennoch würde er nie woanders wohnen wollen. „Hier bin ich geboren, das gehört dazu.“ 67 Jahre SV Sillenbuch, 25 Jahre Obst- und Gartenbauverein.

Vom Lärm, der auf der Durchfahrtsstraße in den vergangenen Jahren unweigerlich zugenommen hat, hört er nichts. Isolierglasfenster, sagt er und lacht knitz. Nicht alles Moderne ist schlecht.

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