Seit 1955 hat sich viel verändert, nicht nur die Bundesstraße. Foto: Stadtmessungsamt/Plavec

Für Heimatvertriebene und Ausgebombte bot die Flüwo nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Stuttgart-Degerloch Wohnraum an. Herbert und Irmgard Stauch sind Mieter der ersten Stunde und berichten in unserer Luftbildserie aus ihrem Leben an der Gohlstraße.

Degerloch - Schallplatten, CDs, noch mehr Schallplatten, noch mehr CDs. Wer Herbert und Irmgard Stauch in ihrer gemütlich eingerichteten Wohnung an der Degerlocher Gohlstraße 11 b besucht, merkt schnell, dass er es mit Musikliebhabern zu tun hat. Die Klassik hat das Ehepaar ein Leben lang begleitet, und auch heute hört Herbert Stauch täglich Musik.

„Wir hatten 40 Jahre lang ein Abo fürs Staatstheater“, sagt Stauch. Nach seinem Lieblingskomponisten befragt, zögert er keine Sekunde. „Mozart, ohne Frage“, sagt der 87-Jährige. Dessen Vielseitigkeit sei einfach unübertroffen. Seit seine Mutter den gebürtigen Hoffelder mit 18 Jahren erstmals in eine Inszenierung der „Zauberflöte“ in die Stuttgarter Oper mitgenommen hat, ist er Feuer und Flamme für das Salzburger Jahrhundertgenie.

Im Musikverein fand sie damals Anschluss

Die Musik war es auch, die Herbert und Irmgard Stauch zusammengebracht hat. 1949, als die Bundesrepublik gegründet wurde, trat Herbert Stauch in den Degerlocher Gesangsverein ein, dem beide heute noch angehören. Zwei Jahre später lernte er seine Irmgard kennen. Sie war nach dem Krieg als Heimatvertriebene 1946 mit ihren Eltern aus Schlesien nach Bad Cannstatt gekommen, vier Jahre später zogen sie an die Straifstraße nach Degerloch.

Im Musikverein fand die heute 87-Jährige Anschluss – und ihren Mann. 1954 folgte die Hochzeit. „Wir wollten, mussten aber auch heiraten, weil wir einen Wohnberechtigungsschein brauchten“, sagt Herbert Stauch. Der verschaffte den Anspruch auf die damals teils staatsfinanzierten Wohnungen. Als erste Mieter zogen die beiden damals, 1955, in das Haus der „Gemeinnützigen Flüchtlings-Wohnbaugenossenschaft Stuttgart eGmbH“, kurz Flüwo. Nicht nur viele Heimatvertriebene zogen damals vornehmlich ein, sondern auch „Ausgebombte“, also Stuttgarter, deren Häuser im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren.

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Der Gründer der Flüwo, Fritz Kleiner, war selbst ein Heimatvertriebener aus Schlesien. „Ich erinnere mich noch an das riesige Schild, auf dem ‚Hier baut die Flüwo‘ stand“ sagt Irmgard Stauch. Kleiner habe die Mieter handverlesen und auf eine ausgewogene Mischung Wert gelegt. Weil Irmgard Stauchs Vater bereits 1948 Mitglied geworden war, gehörte das Paar 1955 zu den ersten 20 Mietern im neuen Haus an der Gohlstraße 11. Die Wahl haben die beiden nie bereut. „Das Nachbarschaftsverhältnis hier ist großartig.“ Ob katholisch, evangelisch, muslimisch oder „ungläubig“, wie Herbert Stauch sagt, alle pflegten einen anständigen Kontakt miteinander.

Ob es ihnen in den Sinn gekommen ist, einmal wegzuziehen? „Einmal hatte ich ein Angebot, beruflich nach München zu ziehen“, sagt Herbert Stauch, der lange Jahre als Fernschreiber bei „Standard Elektrik Lorenz“ (SEL) gearbeitet hat. Der Reiz der bayrischen Hauptstadt erwies sich jedoch als nicht groß genug – seine Heimat sollte Degerloch bleiben. Hier waren Vereine, Freunde und Eltern, und hier fühlen sich beide nach wie vor pudelwohl.

Wenngleich sich einiges geändert habe im Viertel. Viele Geschäfte seien weggezogen. „Damals gab es mehr Läden im direkten Umkreis, darunter ein tolles Feinkostgeschäft“, erinnert sich Irmgard Stauch. Bäckereiketten hätten Handwerksbäcker ersetzt, den „Konsum“-Supermarkt gibt es nicht mehr. Nun gehen die beiden eben zum Metzger Frey oder zum letzten verbliebenen Bäcker am Eck – für größere Einkäufe fahren sie nach Möhringen.

Ende der 1940er Jahre ging es um schnell zu schaffenden Wohnraum

Verändert hat sich auch die Flüwo, die heute unter dem Namen „Flüwo Bauen Wohnen eG“ firmiert. Nach der Gründung im August 1948 ging es ihr darum, schnell Wohnraum zu schaffen. „So entstanden in den ersten acht Jahren bis 1956 insgesamt 5200 einfach ausgestattete Wohnungen“, sagt der Flüwo-Sprecher Dominik Ottmar. Heute sind es bundesweit fast 9000 Wohnungen an 23 Standorten.

Der Ausstattung entsprach der Baustil: Heute würden viele den Bau an der Gohlstraße 11, in dem die Stauchs wohnen, einen Betonklotz nennen. Die Neubauten sind architektonisch zeitgemäßer, die Förderung aber geringer. „Im Vergleich zu den Gründungsjahren ist heute nur ein sehr geringer Teil unserer Bestände öffentlich gefördert, etwa acht Prozent“, erklärt der Sprecher Ottmar. Durch kommunale Konzepte wie das Stuttgarter Innenentwicklungsmodell (SIM) könne sich das aber in Zukunft wieder ändern.

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