An der Epplestraße sind viele Gebäude abgerissen und neu gebaut worden. Zudem ist der Verkehr mehr und lauter geworden. Foto: Stadtmessungsamt/Plavec

Die Epplestraße in Stuttgart-Degerloch ist heute eine der betriebsamsten Straßen im Stadtbezirk. Die Hauptstraße war allerdings schon immer wichtig, war sie doch die Verbindung für Reisende gen Süden.

Degerloch - Ein Blick von Günther Kirschner genügt, um den Unterschied klarzumachen, der die Epplestraße der Nachkriegszeit von der im Jahr 2017 unterscheidet. Er schaut in Richtung der schalldichten Fenster im Esszimmer seines Hauses an der Epplestraße19 C; er hat sie bereits in den 60er Jahren installieren lassen. Kein Mucks dringt hier nach innen. „Es ist weitaus hektischer heute“, sagt Günther Kirschner. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Es gebe schlicht viel mehr Autos als damals. Die machten Lärm und die schalldichten Fenster nötig.

Betriebsam ist es auf der damaligen B 27 freilich immer schon zugegangen, wenn auch deutlich ruhiger. Schließlich diente sie lange Zeit als Durchgangsstraße in den Süden Richtung Tübingen, weshalb sie für lange Zeit Tübinger Straße hieß. Bis in die 60er Jahre verlief sie zweispurig und bestand aus Pflastersteinen. Im 18. Jahrhundert nannte man sie Schweizerstraße, wie Ortshistoriker Albert Raff erzählt. „Als es noch keine Neue, sondern nur die Alte Weinsteige gab, musste man zwangsläufig hier durch, um nach Tübingen oder in die Schweiz zu kommen.“ Weil die Stuttgarter nach dem steilen Anstieg nach Erfrischung dürsteten, machten sie im Gasthof Ritter Rast, der heute als Pilsstube Ritter firmiert. Dort bereitete man sich auf die „Auslandsreisen“ vor, denn Möhringen und Vaihingen gehörten damals noch nicht zu Württemberg, sondern zur Freien Reichsstadt Esslingen.

Benzingeruch löst Hufgeklapper ab

Als Verbrennungsmotoren und Benzingeruch irgendwann das Geklapper von Hufen ersetzten, machte sich das auch an der Epplestraßebemerkbar: Auf dem beschaulichen Lindenplatz installierten die Nazis 1938 eine Zapfsäule der Leuna-Werke, an der man „deutsches Benzin“ tanken konnte. Nach dem Krieg befüllte man die Tanks an der gleichen Stelle mit Benzin der amerikanischen Gasolin AG. Passend, denn zu dieser Zeit dominierten US-Militärfahrzeuge den Verkehr an der Epplestraße.

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Günther Kirschner war als junger Mann oft mit dem Auto unterwegs: mit dem Opel Kapitän seines Vaters Gustav Kirschner. Der hatte 1941 den Gasthof Löwen und die Metzgerei erworben und sie mit seiner Frau Emma von 1948 an auch selbst betrieben. Wie heute konnte man in den 60ern den Führerschein bereits mit 17 Jahren ablegen. Einzige Auflage: „Vor jeder Fahrt musste man den Eltern Bescheid sagen“, berichtet Kirschner mit Augenzwinkern.

Es gab aber noch andere Gründe, warum das Thema Auto für seine Familie damals allgegenwärtig war: Die Kirschners mussten praktisch täglich damit rechnen, dass ein Fahrzeug in ihrem Schaufenster landet. Alle paar Wochen kam es zu einem Zwischenfall. „Besonders schlimm war es im Sommer“, erinnert er sich. Dann nämlich vermischte sich die Staubschicht auf dem Pflasterstein mit etwas Regenwasser zu einem fatalen Schmiergemisch. „Vor allem Motorradfahrer, die dachten, sie könnten sich in die Kurve legen, hat es oft erwischt“, so Kirschner. Sogar Tote habe es gegeben.

Heute ist die Epplestraße eine Einbahnstraße

Nicht nur die Verkehrsführung – heute ist die Epplestraße eine Einbahnstraße – hat sich seither verändert. „Die größte Veränderung kam Ende der 60er Jahre mit der sogenannten Betonierung“, sagt Ortshistoriker Albert Raff. Damals habe man angefangen, Häuser abzureißen und solche zu bauen, die nicht mehr ins Bild passten. So auch die beiden Kinos „Deli“ (für Degerlocher Lichtspiele) an der damaligen Tübinger Straße 14 und „Luxor“ ein paar Häuser weiter. Um übers Weltgeschehen auf dem Laufenden zu bleiben, ging man in die Lichtspielhäuser, schaute die „Wochenschau“ – und natürlich Hollywood-Filme.

Als das Farbfernsehen aufkam, zogen Supermärkte ein, später machte die Abrissbirne die alten Gebäude, die die Lichtspielhäuser beheimatet hatten, dem Erdboden gleich. Angefangen hatte die Abrissserie mit dem Haus in der Kurve gegenüber des Lindenplatzes, wo heute Rolf Reihle seinen Elektromarkt betreibt. Viele Jahrzehnte führte Reihle sein Geschäft in einem Haus weiter unten an der Straße, heute befindet sich an dieser Adresse ein Feinkostladen. Sein Vater hatte es in den 30er Jahren gegründet und aufgebaut. „Das hat man früher wie Tante-Emma-Läden betrieben – unten der Laden, drüber die Wohnung“, sagt Reihle. Er zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto aus jener Zeit. Eine ganze Mannschaft von Monteuren kniet in Blaumännern auf dem Boden und lacht in die Kamera.

Mit dem Fahrrad zum Kunden

Wie Günther Kirschner sagt auch Rolf Reihle, dass im Vergleich zu früher vor allem der Verkehr zugenommen habe. „Vieles wurde damals fußläufig erledigt“, so der 79-jährige. Selbst die Monteure seien mit dem Fahrrad zu den Kunden gefahren. „Damals hatten die noch keine Firmenautos.“

Die Kehrseite: Ein echter Knochenjob sei das damals gewesen, nicht vergleichbar mit den heutigen Verhältnissen. Mindestens genauso habe sich die Epplestraße verändert: Es gebe ein Überangebot an Bäckereifilialen, Banken, Friseuren und Apotheken. „Früher gab es viel mehr Handwerksbetriebe, die dann Richtung Tränke abgewandert sind.“

Der Ortshistoriker Albert Raff bedauert, dass so viel alte Bausubstanz abgerissen wurde. „Zum Glück ist dann die Ölkrise gekommen“, sagt er, die habe dem Bauwahn Einhalt geboten. Selbst das Gebäude der Pilsstube Ritter wollte man der Abrissbirne preisgeben. Es wurde dann aber noch rechtzeitig unter Denkmalschutz gestellt. Immerhin: Die Bauten der nachfolgenden Bauphase habe man besser an die historische Substanz angepasst.

1979 übernahm er die Familienmetzgerei

Nachdem Gustav Kirschner sein Geschäft wegen eines Magenleidens nicht weiterführen konnte, verpachtete er es zunächst. Sein Sohn Günther musste deshalb nach Gablenberg ausweichen und betrieb dort ein Metzgergeschäft als Pächter. Nach dem Auslauf der Pachtverträge an der Epplestraße konnte er dann 1979 endlich die Familienmetzgerei übernehmen, die er 20 Jahre lang betrieben hat. Heute führt sie sein Neffe Oliver Cantz, nach dem sie auch benannt ist.

Sein Sohn wollte das Geschäft nicht weiterführen, erzählt Günther Kirschner. Ohnehin sei der Beruf vom Aussterben bedroht, glaubt der 73-Jährige. Einstmals habe es sieben Metzger in Degerloch gegeben. Heute seien noch gerade einmal zwei übrig. „In dem Beruf muss man Schwerstarbeit leisten: Von morgens um sechs bis abends um acht zu arbeiten, das ist die Normalität. Wem will man das heute noch zumuten?“

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