Die Bauten der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft an der Erisdorfer Straße galten in den 90er Jahren als Problemviertel und sozialer Brennpunkt. 1955 war von ihnen noch überhaupt nichts zu sehen. Foto:  

Der Westen von Stuttgart-Birkach hatte in den 1990er Jahren den Ruf eines Problemviertels. Thomas Engelmann ist dort aufgewachsen. Hier erzählt er, warum er später wieder an die Erisdorfer Straße gezogen ist.

Birkach - Damals in der Zahnradbahn habe er gelernt, was es heißt, aus dem falschen Stadtteil zu kommen, sagt Thomas Engelmann. „Wenn die Polizei uns in der Strampe kontrolliert hat, und die Beamten gefragt haben, woher wir kommen, stand für die schon fest, dass wir was ausgefressen haben, wenn wir nur ,Birkach-West‘ gesagt haben“, erinnert sich der 30-Jährige. Dann hätten die Polizisten eben erst einmal ganz genau hingeschaut, erzählt er. Sie waren dabei vielleicht ein bisschen nervöser als bei anderen Fahrgästen, sagt Engelmann.

Die Bauten der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) an der Erisdorfer Straße in Birkach galten bis Ende der 1990er Jahre als sozialer Brennpunkt und als eine Gegend, um die sich die Stadtgesellschaft in der einen oder anderen Weise kümmern musste. Die Anwohner schienen Unterstützung zu benötigen, aber auch Kontrolle. Ein wenig war es, als würde in den klotzartigen Betonbauten ein anarchischer Stamm hausen, der einzubrechen drohte in die ihn umgebende wohlgeordnete Welt. „Wir waren damals so etwas wie Sperrgebiet“ sagt Engelmann.

Jugendliche zog es auf den Marienplatz

Heute gehört das zu einer Zeit, in der eine junge urbane Schicht noch nicht Cafés und Eisdielen am Marienplatz belagerte, um sich portugiesischen Milchkaffee und Karamelleis mit Meersalz schmecken zu lassen. Damals war der Marienplatz eher Treffpunkt für Jugendliche, die sonst in der Innenstadt nicht willkommen waren. Weil sie etwa wie Engelmann aus einem übel beleumdeten Viertel kamen.

Inzwischen hat sich nicht nur der Marienplatz völlig neu erfunden. Auch die Erisdorfer Straße hat ihren schlechten Ruf weitestgehend verloren. Niemand spricht heute mehr von „Birkach-West“ mit einem Zungenschlag, als würde über Duisburg-Marxloh oder Neukölln gesprochen. Die Erisdorfer Straße und die unterhalb liegenden Gebiete jenseits der Aulendorfer Straße bilden zusammen den Stadtteil Birkacher-Nord.

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Die Wandlung begann, als die SWSG Ende der 1990er Jahre anrückte und den Betonbauten neue, bunte Fassaden verpasste. Die Wohnungsbaugesellschaft bemühte sich auch darum, die Mieterschaft stärker zu durchmischen. Thomas Engelmann würde vielleicht voller Ironie sagen, dass es damals darum ging, mehr „ordentliche Schwaben“ anzusiedeln. Er erzählt voller Bedauern davon, dass die Kinder plötzlich nicht mehr auf den Rasengrundstücken spielen durften. Die Regelwut der wohlgeordneten Welt zog stattdessen ein in die Bauten an der Erisdorfer Straße.

Niemand macht mehr dumme Sprüche

Die Folgen sind heute zu spüren. Engelmann erzählt, dass seine Nichte sich heute in der Schule keine blöden Sprüche mehr anhören müsse, weil ihre Familie an der Erisdorfer Straße wohnt. Auf der anderen Seite sei etwas verloren gegangen, das die Bewohner in den alten, wilden Zeiten miteinander verbunden hat: Das Wir-Gefühl, das sich gegen eine Welt da draußen wandte. Engelmann erinnert sich an ältere Birkacher, die auf die andere Straße gewechselt sind, wenn die Jungs aus den SWSG-Bauten unterwegs waren. Andere lehnten sich aus ihren Fenstern und keiften, wenn die jungen Leute sich dem Gartenzaun näherten. Für viele Eltern an der Schule seien er und andere Kinder aus der Erisdorfer Straße schlechter Umgang gewesen, erzählt er. Eine unsichtbare Grenze trennte das Wohngebiet vom Rest Birkachs, erinnert sich Engelmann.

Ein Deutscher integriert sich

Der junge Mann nahm in seinem Viertel eine Sonderrolle da. Nur ist sie aus seiner Sicht keine gewesen. Eine Junge, der heute wohl „biodeutsch“ genannt werden würde, war Teil einer Clique, deren Mitglieder aus zahlreichen Nationen stammten. Türken, Kroaten, Eritreer, Afghanen – die Liste der Herkunftsländer, aus denen Engelmanns Freunde stammten, erscheint endlos. Der junge Deutsche erlebte Integration mal anders herum. Er wurde aufgenommen in eine Gemeinschaft, die von ihrer Umwelt über ihr Anderssein definiert wurde. Engelmann, der Deutsche, wurde durch seinen Umgang auch in den Augen anderer zum Migranten. Das habe Konsequenzen bis heute, erzählt er „Noch immer ist es so, dass ich mich unter Ausländern oft wohler fühle“ sagt Engelmann.

Und dann erzählt er seine Geschichte voller Kiez-Romantik. Seine türkischen oder kroatischen Freunde seien bei ihm ein- und ausgegangen wie sie bei seiner Familie. Auch die Eltern wurden mit der Zeit Freunde. Seine deutsche Mutter schnackte etwa gerne mit der türkischen Mutter von nebenan stundenlang in der Küche, während ihre Jungs zusammen um die Blöcke zogen.

Nachbarn feierten zusammen

Die Ablehnung der anderen schweißte Deutsche und Ausländer an der Erisdorfer Straße zusammen, meint Engelmann. All das, was heute diskutiert wird im Zusammenhang mit dem Komplex Integration, etwa die unterschiedliche religiöse Prägung, habe damals keine Rolle gespielt, sagt er. Gerne erinnert er sich an die spontanen Nachbarschaftsfeste an der Erisdorfer Straße. „Wir Jungs haben angefangen zu grillen und dann kamen halt auch unsere Eltern dazu“, erzählt er.

Am Ende lag die Bratwurst neben der Sucuk, und allen schmeckte es wunderbar. Sicher, auch Engelmann erinnert sich an Polizeirazzien am frühen Morgen. Doch er erzählt davon, wie von Abenteuern, die ihn nicht betrafen. „Alle meine Freunde von damals haben heute ordentliche Jobs und leben ein normales Leben. Wir sind nicht abgerutscht“, sagt Engelmann. Viele aus seiner Clique hätten die Erisdorfer Straße verlassen – um dann später wieder von einer Rückkehr zu träumen erzählt er. Er selbst habe eine Weile an der Grüninger Straße gewohnt. Doch als sich die Möglichkeit bot, zog er zurück in die Blöcke. „Mir war das manchmal zu deutsch an der Grüninger Straße, irgendwie ist dort alles immer geregelt“, sagt er.

Obwohl, wie Engelmann klagt, auch an der Erisdorfer Straße viele heute nur für sich sein wollten, sei der alte Geist des Zusammenhalts noch nicht ganz vertrieben. Gerade die Bewohner, die noch die alten Zeiten erlebt haben, würden immer noch auf gute Nachbarschaft setzen, sagt er. Er helfe zum Beispiel gern bei älteren Nachbarn aus, die dann bei ihm klingeln würden, wenn sie etwas gebacken haben. „Ich kann mir das nicht vorstellen, wie Leute Tür an Tür mit anderen leben und nicht mal ihren Namen kennen“, sagt er.

Ein Freund aus seiner Jugend plane derzeit ein Treffen der alten Clique. „Wir wollen alle zusammen trommeln, die damals an der Erisdorfer Straße miteinander aufgewachsen sind“, sagt Engelmann. Im Zeitalter der sozialen Medien sei das ja kein Problem. „Wir sind auch nach all den Jahren noch alle miteinander verbunden“, sagt Engelmann.

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