Staatsanwaltschaft Stuttgart will noch dieses Jahr über Anklageerhebung entscheiden. Foto: dpa

Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Männer, die italienisches Dorf ausgelöscht haben sollen.

Stuttgart - Knapp 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs könnte es in Stuttgart noch einen Prozess gegen Nazi-Kriegsverbrecher geben. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart will noch dieses Jahr ihre Ermittlungen gegen mehrere Männer abschließen, die 1944 das toskanische Dorf Sant’ Anna di Stazzema als Mitglieder der 16. SS-Freiwilligen-Panzergrenadier-Division Reichsführer SS überfallen und 560 Zivilisten ermordet haben sollen.

Am 12. August 1944 kurz nach 6 Uhr umzingelten vier Kompanien der Waffen-SS das kleine Bergdorf, in dem sich 400 Einwohner und mehrere Hundert Flüchtlinge befanden. Offiziell sollte die Waffen-SS gegen Partisanen vorgehen. Tatsächlich wurden 560 Menschen umgebracht. Die meisten waren Frauen und Kinder, das jüngste 20 Tage alt. Die Opfer wurden auf dem Kirchplatz zusammengetrieben, die SS-Leute warfen Handgranaten zwischen die Dorfbewohner. Wer überlebte, wurde erschossen. Danach brannte die Waffen-SS das Dorf nieder.

Bis heute ist gegen die bekannten, noch lebenden mutmaßlichen Täter keine Anklage erhoben worden. In Italien war man schneller. 2005 verurteilte das italienische Militärgericht in La Spezia zehn deutsche ehemalige SS-Angehörige im Alter von 79 bis 93 Jahren wegen des Massakers in Sant’ Anna zu lebenslanger Haft – in Abwesenheit. Das oberste Gericht in Rom bestätigte die Urteile in der Berufung. Sieben dieser verurteilten Kriegsverbrecher sollen, Stand 2009, noch am Leben sein. Gegen wie viele die Stuttgarter Staatsanwaltschaft ermittelt, will sie nicht verraten. Noch in diesem Jahr sollen die Ermittlungen abgeschlossen werden.

Anwältin beklagt Verschleppung des Verfahrens

Das bedeutet indes nicht, dass Anklage erhoben wird. Reichen den Staatsanwälten die Ermittlungsergebnisse nicht aus, werden die Verfahren eingestellt.

Dass es überhaupt so lange dauert, begründen die Ankläger damit, dass sie erst im Juni Ergebnisse vom Landeskriminalamt bekommen hätten. Bei der dortigen Ermittlungsgruppe Nationalsozialistische Gewalt hatten die Stuttgarter Recherchen in Auftrag gegeben. Diese Erklärung erzürnt die Hamburger Anwältin Gabriele Heinicke. Sie vertritt einen Mann, der bei dem Massaker in dem toskanischen Bergdorf 27 Angehörige verloren hat. Der Nachrichtenagentur dpa sagte Heinicke, bereits 2006 habe es einen hinreichenden Tatverdacht für eine Anklage gegeben. Die Anwältin unterstellt der Stuttgarter Staatsanwaltschaft, sie verschleppe das Verfahren. Die Verwandten der Mordopfer seien darüber empört. Sie könnten mit ihrem Schicksal nicht abschließen, solange die Schuld nicht geklärt sei, so Heinicke.

Für die Staatsanwaltschaft stellt sich die Sachlage offenbar komplizierter dar. Man müsse jedem Beschuldigten Mordmerkmale wie Grausamkeit oder niedrige Beweggründe nachweisen. Handle es sich dagegen um Totschlag, wären die Taten bereits verjährt.

Ein zweiter Fall könnte in Bayern verhandelt werden. Die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg hat Ermittlungen zu einem KZ-Aufseher in Auschwitz abgeschlossen und die Ergebnisse an die Oberstaatsanwaltschaft in Weiden übergeben. Der 87-Jährige wird beschuldigt, 1944 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau an der Vergasung von 344.000 deportierten Menschen beigetragen zu haben. Die meisten Opfer sollen ungarische Juden gewesen sein.

Der Schrank der Schande

Der Schrank der Schande

Dass es überhaupt noch zu Ermittlungen gegen Nazi-Kriegsverbrecher kommt, hat maßgeblich mit dem Schrank der Schande zu tun. Darin wurden 1994 Akten zu SS-Massakern gefunden.

Im Palazzo Cesi, dem Sitz der Militär-Generalstaatsanwaltschaften in Rom, wurden in den 1950er Jahren noch von den Alliierten angelegte Akten über Kriegsverbrechen verwahrt. Eigentlich hätten diese Dokumente an die zuständigen Militärstaatsanwaltschaften geschickt werden müssen.

Deutschland sollte damals als Bollwerk gegen die Sowjetunion der Nato beitreten. Diese Entwicklung wollte man nicht mit Akten über deutsche Kriegsverbrechen stören.

Im Januar 1960 legte ein italienischer Richter 695 Aktenordner mit detaillierten Informationen über SS-Massaker in Italien in einen Schrank in einem Abstellraum im Palazzo Cesi. Er versah den Schrank mit einem Schloss und stellte ihn mit den Türen zur Wand.

Dieser Schrank der Schande blieb unentdeckt. Erst 1994 stieß ein Richter zufällig auf die Akten und übergab sie den Militärstaatsanwaltschaften. Es folgte eine Reihe von Prozessen.

So wurde ein ehemaliger SS-Hauptsturmführer wegen der Erschießung von 15 Männern auf dem Mailänder Loreto-Platz in Abwesenheit zu lebenslanger Haft verurteilt.

Auch Akten zu dem Massaker in Sant’ Anna di Stazzema wurden im Schrank der Schande gefunden.