Die Königstraße in den 50er-Jahren Foto: Bothner/Landesmedienzentrum

Die Königstraße in Stuttgart ist mit 1,2 Kilometer Länge die „längste Einkaufs-Fußgängerzone Europas“. Aktuell und mehr noch in den kommenden Jahren wird die zentrale Flaniermeile der Landeshauptstadt ihr Gesicht erheblich verändern. Anlass für eine Bestands­aufnahme.

Stuttgart - Die Königstraße ist im Gespräch. Es stehen gewaltige Baumaßnahmen, Wechsel unter den Eigentümern, Änderungen von Nutzungen und damit Umwandlungen von Gebäuden an. Im Bewusstsein ist vor allem der Neu- und Umbau des Warenhaus Karstadt sowie die mit den Karstadt-Plänen verbundenen Konsequenzen für das Kaufhofgebäude.

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Die Übernahmeschlacht unter den Kauf- und Mieterinteressenten ist in vollem Gange und sie werden das Gesicht und die Atmosphäre der Königstraße, erheblich verändern. Die Königstraße ist mit 1,2 Kilometer Länge die „längste Einkaufs-Fußgängerzone Europas“. Reine Fußgängerzone ist sie seit 1977. Doch ihre Geschichte reicht über Jahrhunderte. Sie war, seit dem Mittelalter, seit der Gründung der Stadt ihre wichtige nord-westliche Begrenzung, ein Graben, dann die nordwestliche Erschließung der Stadt, schon ehe sie den Namen Königstraße erhielt.

Thourets Pläne

König Friedrich I. von Württemberg, seit 1806 König von Napoleons Gnaden, ließ den unteren Teil vom heutigen Bahnhof – hier stand bis 1928 das Königsto – bis zum Schlossplatz von seinem königlichen Hofbaumeister Nikolaus Friedrich von Thouret planen und ausbauen. Der Marstall wurde bereits 1803 vom Schloss Solitude nach hier verlegt und in den folgenden Jahrzehnten in Ladegeschäfte und öffentliche Einrichtungen, Kinos umgewandelt. 1960 entstand daraus das Kaufhaus Hertie.

Der obere Teil der Straße, vom Schlossplatz bis zum Wilhelmsbau, entstand durch Aufschüttung des Großen Grabens, dadurch ergab sich der Höhenunterschied zwischen Königstraße und anschließendem südöstlichem Stadt-Bereich. 1811 erhielt das Ganze den Namen Königstraße. Der dazwischen liegende Teil, heute Schlossplatz, diente nach dem Bau des Neuen Schlosses unterschiedlichen Planungen und Nutzungen. Seine heutige Gestalt bekam er durch den Bau des Königsbaus von 1856 bis 1860 durch die Architekten Knapp und Christian F. Leins, Architekt vieler Gebäude in Stuttgart – auch der Villa Berg mit ihrem Park.

Der Stadtraum mit seinen Straßen und Plätzen ist die höchste und anspruchsvollste Form des Gesamtkunstwerks Stadt. Die Flaniermeile Königstraße diente von Mitte des 19. Jahrhunderts an der Repräsentation und der Demonstration des urbanen Lebens der bürgerlichen Gesellschaft Stuttgart. Dort fand man die besten Geschäfte, jüdische und nichtjüdische in friedlicher Koexistenz nebeneinander, kostbare Auslagen neben dem Blumenladen und dem Miedergeschäft.

Hier traf man sich, ohne Zwang, vom „Herrn König“ bis zum Straßenkehrer. Die Straßenbahn, die Fuhrwerke, später die Autos fuhren langsam, der Stadtboden gehörte allen. Eduard Paulus besang sie: „Königstraße, meine Wonne, oh, was wär ich ohne dich“.

Falle Fußgängerzone - versperrte Blickachse

Heute würde er so nicht mehr singen. Nicht etwa, weil ihm die Designqualität der Straßenmöblierung, die Fassaden der Gebäude zu modern oder mit zu wenig Qualität wären, sondern weil der Beschluss, die Königstraße in eine „finale Fußgängerzone“ zu verwandeln, für die Stadt eine Katastrophe war. Vorne und hinten geschlossen, verbarrikadiert, hat sie ihre Besucher- und Nutzungsvielfalt, die Sinn und Zweck einer zentralen Stadtachse ist, zugunsten einer rigorosen Monofunktionalität eingebüßt.

Früher wurden die großen Trauerzüge, zuletzt von Theodor Heuss, die Fastnachtsumzüge, die Demonstrationen über die Königsstraße geleitet, heute werden sie über Nebenstraßen, die Theodor-Heuss-, die Kronprinz-, die Konrad-Adenauerstraße gelenkt.

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Am Anfang der Königstraße steht der vierkantige Bahnhofsturm, doch man sieht ihn von Frühjahr bis Herbst vor lauter Bäumen nicht. Der öffentliche Raum ist gerade dort zergrünt, wo seine städtebauliche Bedeutung sichtbar werden müsste. Das Ende wird vom Wilhelmsbau, von einem Platz der dort einmündenden König-, Rotebühl- und Marienstraße beherrscht. Das Aral wurde vor wenigen Jahren zu einer riesengroßen, steinernen, zu einer öden Fläche verwandelt.

Deutschland war noch nie so wohlhabend, doch seine Stadträume, seine Straßen waren noch nie so armselig. Niemand plante, kümmerte sich in den letzten Jahrzehnten um den konkreten Stadtraum, weder die Politiker, die Stadtplaner, noch die Architekten. Die Stadt kommt bei allen zuletzt. So erging es in den vergangenen Jahren auch der Königstraße. Die „Qualität“ von Straßen, der Königstraße wird von den Verantwortlichen nicht an ihrer räumlichen , atmosphärischen, historischen Qualität, an der Vielfalt der Nutzungen, der Qualität des Warenangebots gemessen, sondern an der Anzahl der Passanten pro Stunde, an der Frequenz, an den Besucherströmen. Der Filialisierungsgrad wird bald die 100 Prozent erreichen. Konsequenz der Rechenspiele?

Ost-West statt Nord-Süd

Die Prachtmeile Königstraße verkam zur schnurgeraden Einkaufsmeile. Vor Ihrer Zerstörung und ihrer Verteilfunktion und ihrem linearen Wiederaufbau boten sich Raumfolgen nach allen Richtungen, nach den benachbarten Quartieren. Einerseits über das Leonhardsviertel bis zur Olgastraße, andererseits über das Hospitalviertel, das mit der verkommenen Kronprinzstraße beginnt, bis zum Lindenmuseum.

Die historische Innenstadt hatte bis zu Ihrer Zerstörung eine Nord-Süd-Ausdehnung von ungefähr 1300 Meter, eine Ost-West-Ausdehnung von ungefähr 1500 Meter. Es war ein allseitiger, den Talgrund aufnehmender Gesamtorganismus. Die Verkehrsplanung nach 1945 hat ihn zerstört. Sie ist verantwortlich für die Kommerzbrache, die daraus geworden ist. Die Gesellschaft verdient die Experten, die Politiker, die Stadträume, die Architektur, die ihrem gesellschaftlichen Zustand, ihrer Lebensweise entspricht. Menschen, Sozialverhältnisse, Stadtraum, alles wird zum Abfall unserer verrückt gewordenen Waren-und Kapitalordnung. Wenn die Menschen ihr Leben mit Amazon einrichten, ist die verödete Innenstadt und die zersiedelte Landschaft die natürliche Folge.Wir sind nicht nur die Opfer von Städtebau und Architektur, wir sind auch die Täter.

Bürgerliche Größe

Im 19.Jahrhundert, säumten bis zur Zerstörung 1944 städtische, bürgerliche Gebäude und Nutzungen von hoher Alltagsqualität mit unverwechselbarem Stuttgart-Flair die Königstraße. Sie waren identitätsprägend mit Stuttgarter „Stallgeruch“, in Charakter und Atmosphäre eine Mischung von Qualität, Solidität und Angemessenheit. Maler wie Reinhold Nägele und Fotografen haben häufig die Straße in diesem der Großstadt Stuttgart würdigen Zustand als Motiv genommen. Diesen Charakter verlor sie im Wiederaufbau. Heute sind es mit wenigen Ausnahmen Bauten von überdurchschnittlicher Durchschnittlichkeit. Und dort, wo Internationalität ausgerufen wird, entsteht sie ohne Ortsbezug.

Bemerkenswerte, einer Großstadt würdige Gebäude, werden immer weniger. Die Straße wird immer gesichtsloser, verwechselbarer, namenloser. Nur noch wenige Gebäude der Königstraße weisen noch überdurchschnittliche Qualität auf: Neben den historischen Gebäuden um den Schlossplatz, Kunstgebäude, Königsbau, Prinzenbau, Alte Kanzlei sind es Peek & Cloppenburg, St. Eberhard, das Haus der Katholischen Kirche, der Wittwer-Bau, der Speiserbau, der Mittnachtbau und das Karstadt-Gebäude. Dieses hat eine lange Geschichte mit vielen wechselnden Besitzern und Pächtern und musste viele Zerstörungen, Umbauten, Anbauten über sich ergehen lassen.

Das noch dem 19. Jahrhundert sich verpflichtend fühlende Kaufhaus Union wurde bereits in den späten 1920er Jahren als Kaufhaus Tietz vom Archiekten Richard Döcker, geplant und nach der Zerstörung von 1950 bis 1953 von ihm wieder als Kaufhaus Tietz, nach seinen Plänen von 1929 realisiert. Ein Gebäude würdig diesem Standort von großstädtischer Haltung und Qualität. Gemäß den von ihm vertretenen Entwurfsprinzipien: Die klare, kubische Baukörpersprache der 1920er Jahre provoziert ein Schweben des Hauptbaukörpers zur Königstraße hin, die einzelnen Baukörper durchdringen sich.

Erkennbar ist die Betonung der Einmündung der wichtigen Fußgängerzone, der Schulstraße, ebenso die baukörperliche Abstufung zur Schulstraße, zur Neuen Schmalen Straße und zum heutigen Süß-Oppenheimer-Platz. Mit dieser überzeugenden Haltung und Baukörpersprache wurde die Königstraße bereichert – als eine beispielhafte Vorgabe für weitere Projekte. Doch leider wurde der Döckerbau durch Baumaßnahmen des Auftraggebers und nachfolgender Eigentümer bis in die jüngste Vergangenheit laufend negativ verändert. Wegen der vielen Eingriffe, Veränderungen, konnte das Gebäude nicht unter Denkmalschutz gestellt werden.

Mangelnde Mitsprache

Mit der Baumaßnahme Karstadt darf nicht nur eine jahrelange Riesenbaustelle mit Behinderungen der umgebenden Straßen- und Platzräume entstehen. Leider wird in den Medien und in der Stadtverwaltung nur darüber diskutiert. Eine Einbindung der Bürger findet nicht statt, sie dürfen allenfalls als Zaungäste jahrelang am Bauzaun entlanggehen, bis dahinter – und das ist zu befürchten – wieder ein nichtssagender Einheitskasten entsteht.

Der Neu- Umbau Karstadt/Kaufhof muss entsprechend als Chance, Herausforderung und Verpflichtung begriffen werden. der Königstraße wieder Gewicht und Gesicht zu geben. Zudem muss es darum gehen, dem Süß-Oppenheimer-Platz, eine dem Namen angemessene Qualität zu geben, einen anspruchsvollen Platz als Übergang zwischen der Königstraße und den östlich anschließenden Stadtquartieren zu schaffen. Es geht darum, ein wichtiges Stück Stadt zu reparieren.