Rudolf Kautz spielt Schach in der S-Bahn-Unterführung Foto: Peter Petsch

Obdachloser animiert Passanten in der S-Bahn-Unterführung Stadtmitte, mit ihm Schach zu spielen – und gewinnt fast immer.

Stuttgart - Nach zehn Uhr abends hat Rudolf Kautz oft keine Lust mehr auf Schach. Was aber nicht an dem Spiel oder der Uhrzeit liegt: „Da sind hier nur noch betrunkene Jugendliche unterwegs – gegen die gewinnt man zu schnell!“ Kautz lebt derzeit in der Unterführung der S-Bahn-Haltestelle Stadtmitte. Dort fordert der 54-Jährige Passanten auf, mit ihm eine Partie Schach zu spielen. Auch wenn das eigene Leben in Schieflage gerät, ist es nicht automatisch sinnentleert. So sieht es Rudolf Kautz, obdachlos und reisender Schachspieler – und geht so weit, dass bürgerlichere Menschen viel von ihm lernen können.

„16,17 Spiele am Tag“, sagt er. Von denen er höchstens drei bis vier verliert. Sieht man Kautz zu, wie er einen Passanten zweimal hintereinander lässig schlägt und immer einen Zug voraus zu sein scheint, während er zügig eine Zigarette nach der anderen raucht, glaubt man im gerne. „Du hast Deinen König schon bewegt“, ermahnt er einen Spieler, der zur Rochade ansetzt – in diesem Fall kein erlaubter Zug. Kautz ist hellwach. Aber das war nicht immer so.

„Das Schachspiel hält mich vom Saufen ab“, sagt der in Kasachstan geborene Deutsche, „darum habe ich vor sieben Jahren angefangen zu spielen.“ Korn durch König und Bier durch Bauer ersetzt. Ohne Therapie, worauf er stolz ist. Hier in der Unterführung und am Schlossplatz. Zwar hat er das Regelwerk schon davor beherrscht, aber das Spiel habe er erst gelernt, indem er damals angefangen hat, gegen sich selbst zu spielen. Sven habe ihm sein erstes Brett geschenkt. Sven ist Sozialarbeiter. „An den Nachnamen erinnere ich mich nicht“, sagt Kautz. Das Brett ist mittlerweile weg. „Wurde mir in Köln geklaut.“ Das Leben auf der Straße ist hart.

Der ehemalige Fernmeldetechniker lebt seit zwölf Jahren ohne festen Wohnsitz. Seitdem er bei einem Betriebsunfall ein Auge verloren hat, ist er in Rente. Über die Zeit vor dem Schach spricht er nicht gern. Tätowierungen an den Fingern sprechen für eine bewegte Vergangenheit. Über sein Leben als reisender Schachspieler ist er dafür besonders redselig: „Ich war in Köln, Mainz, Madrid“, sagt er. Immer im Gepäck: Ein Schachbrett, zwei Stühle und ein Karton, der zum Tisch umfunktioniert wird. Seit Juli 2013 reist Kautz aber nicht mehr allein.

Wladyslaw Szatkowski kommt aus Polen und lebt ebenfalls auf der Straße. „Ihm habe ich das Schachspielen beigebracht.“ Der Pole nickt. Szatkowski spricht sehr brockenhaft Deutsch. Mit ihm verständigt sich Kautz auf russisch. Anfang März wollen die beiden nach Madrid. „Ein Bekannter, mit dem ich in Düsseldorf oft Schach gespielt habe, hat mich dorthin eingeladen.“ Und Flugtickets für Kautz und Szatkowski besorgt.

Schach bringt Kautz nicht nur mehr Geld ein als Bettelei und Flaschensammeln, womit er seinen Lebensunterhalt früher bestritten hat, sondern verschafft ihm auch soziale Kontakte. Die sich oft als wertvoll erweisen. Kautz beißt sich auf die Zähne. „Die hat mir ein befreundeter Zahnarzt aus Köln gerichtet“, freut er sich. Dies tut er auch, wenn einer seiner Lieblingssprüche Passanten zum Schachspiel zu bewegen, nicht mehr ganz stimmt: „Ich beiße nicht. Ich habe noch nicht mal mehr alle Zähne!“

Bei allem Humor merkt man aber doch, dass Kautz gesundheitliche Probleme plagen. Das Rauchen würde man ihm am liebsten ausreden, so heftig hustet er. Mitleid will er aber nicht. „Das macht die Menschen kaputt!“, sagt Kautz. „Nur wenn man etwas verliert, dann lernt man was!“ Kautz zeigt auf sein Glasauge und grinst.

Die meisten hier hätten sowieso ein Problem damit, loszulassen. „Viele kommen mit Ausreden: ‚Ich hab’ so lange nicht gespielt’, ‚Ich kann die Regeln nicht so gut.’“ Kautz glaubt, die meisten hätten Angst davor, sich zu blamieren. „Wieso? Weil ich auf der Straße lebe?“, fragt er ganz ohne Groll. Aber das sei eben typisch deutsch, dieses Genieren. Kautz zündet eine Zigarette an. Und wartet auf den nächsten Gegner.