Etwa fünf Jahre lang hat Ulrike Weiss in ihrem Arbeitszimmer an dem Roman gearbeitet. Foto: Julia Bosch

Mit dem Roman „Fassade – Wenn ich tot bin, werde ich reden“ verarbeitet die Degerlocherin Ulrike Weiss ihre eigene Familiengeschichte. Vor fünf Jahren hat sie Unglaubliches erfahren.

Degerloch - Der Impuls zum Romanschreiben entstand auf dem Friedhof in Degerloch: Nach einem langen Winter besucht Ulrike Weiss Ende Februar 2010 das Grab ihrer Mutter, die vier Jahre zuvor verstorben war. Zwischen dem Grabstein und der Inschriftenplatte findet sie ein zusammengefaltetes Papier mit einer Botschaft von einer ihr unbekannten Frau. Diese wurde, genau wie sie, im Jahr 1945 geboren und kennt den Namen von ihr und ihrer Schwester. Allerdings lebt sie in Berlin und nicht in Stuttgart-Degerloch.

In Ulrike Weiss keimt ein Verdacht auf, der ihr keine Ruhe mehr lässt. Sie kontaktiert die Frau in Berlin, die ihr die eigene Vermutung bestätigt: Die Gleichaltrige ist ihre Halbschwester, ihr Vater hatte eine zweite Familie. Und die beiden Mütter wussten die ganzen Jahre voneinander, standen sogar in intensivem Kontakt. Nur Ulrike Weiss und ihre Schwester erfahren erst dann von der zweiten Familie, als ihre Mutter bereits tot ist und nichts mehr erzählen kann. „Mir wurde klar: Ich muss diese Geschichte nachforschen und aufschreiben“, sagt Ulrike Weiss heute.

Zu großen Teilen ist das Buch autobiografisch

So begann sie im Frühjahr 2010 einen Roman zu schreiben, der zu großen Teilen autobiografisch ist. Die Namen änderte sie, sie wird zur Luise, ihre Halbschwester zur Sabine. Von der bekommt Ulrike Weiss unzählige Briefe, Tagebuchauszüge und Fotos zugeschickt, die die Beziehung des Vaters zu den beiden Frauen erzählen.

Ulrike Weiss sortiert das Material aus den Jahren von 1930 bis 1947. Schließlich hat sie sieben Ordner voller Briefe und fünf Ordner mit zusätzlichem Material gesammelt. Parallel kauft sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben einen eigenen Laptop, lernt das Zehnfingersystem – und beginnt zu schreiben. „Ich habe als Apothekerin schon häufiger Bücher für Apothekenzeitschriften rezensiert, das Schreiben war mir also nicht völlig fremd“, sagt sie. Ein Buch sei aber trotzdem etwas völlig Neues gewesen. Bis zum Jahr 2012 hatte Ulrike Weiss 36 Jahre lang gemeinsam mit einer Kollegin die Apotheke am Eugensplatz im Stuttgarter Ostengeleitet. In ihrem Buch schildert die Autorin, wie ihr anfangs die Ablenkung durch die Arbeit in der Apotheke gut tut, während sie die Geschichte ihrer Eltern langsam begreift.

Nachdem Ulrike Weiss im Jahr 2012 in Rente geht, widmet sie sich völlig dem Schreiben. „Trotz aller Abgründe, in die ich geblickt habe, hat mir das Schreiben Spaß gemacht“, sagt sie. Durch die intensive Beschäftigung mit dem Leben ihrer Eltern habe sie vieles aufarbeiten können. Sie selbst hatte ihren Vater nämlich kaum kennengelernt. Er starb, als sie anderthalb Jahre alt war. Und mit ihrer Mutter sprach sie nach dessen Tod nur wenig über die vergangene Zeit. Es ging in diesen Gesprächen vielmehr um Belangloses; die Kinder, Enkel, die Arbeit, das Wetter, die Nachbarn – so schildert Ulrike Weiss es in ihrem Buch.

Die politische Entwicklung damals führte zu Rissen innerhalb der Familien

„Wenn ich mit Gleichaltrigen spreche, bemerke ich, dass viele diese ‚Lücke’ spüren“, sagt Ulrike Weiss. Wie es den Eltern und Großeltern während des Kriegs erging, wurde verschwiegen und nun sind viele derjenigen, die erzählen könnten, nicht mehr am Leben. „Dieses Bedürfnis zu wissen, was da war, kam erst dann bei mir, als ich selbst kurz vor der Rente stand“, sagt die Autorin; „vielleicht, weil ich mit meiner eigenen Endlichkeit konfrontiert werde.“

In ihrem Buch schildert Ulrike Weiss die damalige Zeit im Wechsel mit der heutigen, außerdem die politischen Ereignisse von damals in Verbindung mit der Geschichte ihrer eigenen Familie. „Natürlich musste ich mir manches zusammenreimen, und es gibt fiktive Elemente“, sagt sie. Doch die Grundgeschichte stimme. So erfährt der Leser, wie sich Hitler immer stärkeren Rückhalt schaffen konnte und zugleich wie die politische Entwicklung dieser Zeit auch innerhalb der Familien zu Rissen führte.

Das Buch gibt es in Stuttgarter Buchhandlungen und im Netz zu kaufen

Als Ulrike Weiss im Frühjahr 2015 nach fünf Jahren Schreiben den Roman fertiggestellt und einen großen Teil der Familiengeheimnisse gelöst hatte, beginnt die Suche nach einem Verlag – was anfangs nicht ganz einfach ist. Schließlich meldet der Südwestbuchverlag Interesse an und verlegt den 360-seitigen Roman. Seit dem 16. Dezember gibt es „Fassade – Wenn ich tot bin, werde ich reden“ zum Preis von 14,80 Euro in allen Stuttgarter Buchhandlungen, sowie im Internet zu kaufen.

Unterdessen kann sich Ulrike Weiss mittlerweile sogar vorstellen, ein weiteres Buch zu schreiben – doch zunächst einmal ist sie glücklich, dass ihr aktueller Roman so gut ankommt. Erst vor wenigen Tagen habe eine Bekannte gleich zehn Bücher auf einmal bestellt: Die Geschichte habe ihr so gut gefallen, dass sie den Roman an sämtliche Freunde weiterverschenken wolle, erzählt Ulrike Weiss und lacht.