Schon vor Jahrzehnten gab es in der Tübinger Straße offen einen Shared Space – eine Mischverkehrsfläche. Foto: Scheid

Das Gerberviertel war einst die Hochburg des Tuchhandels und der Schneiderkunst. Heute bahnt sich eine kleine Renaissance an. In der Tübinger Straße eröffnet bald wieder ein Maßschneider und die im Viertel ansässige Modeschule Kehrer expandiert ins Einkaufscenter Gerber.

Stuttgart - Noch heute erinnert das alte Zunftzeichen an eine Blütezeit in diesem Viertel. Die geöffnete Schere mit den Initialen G und S ziert die Eingangstüre des Hauses und zeigt: Hier waren tapfere Schneider und große Tuchhändler am Werk. 1896 hatte Gustav Scheid zunächst in der Hauptstätter Straße, dann 1904 in der Tübinger Straße 12 bis 14 eine Dynastie begründet. Der Tübinger Hof war bereits vor dem Zweiten Weltkrieg der Ort des feinen Tuchs. Im Jahr des Kriegsendes, 1945, starb der Firmengründer. So erlebte er die Aufbauzeit nach den Luftangriffen in jenen vier Juli-Nächten 1944, die das Herz der Stadt zerstörten, nicht mehr. Ebenso wenig wie den atemberaubenden Aufstieg seiner Firma.

„Bis dorthin, wo heute das Kino in der Tübinger Straße ist, war alles zerbombt“, sagt der gleichnamige Enkel von Gustav Scheid, der den Bombenhagel als Vierjähriger miterlebte.

Der Niedergang setzte in den 1960ern an

Für Gustav Scheid wird diese Zeit immer wieder lebendig, wenn er sich die alten Bilder anschaut. Dann springt sein Kopfkino an, dann erzählt er von den Etappen des Wiederaufbaus, der wunderbaren Zeit des Aufschwungs, von der auch Tuchhaus Scheid profitierte. „Als ich 1968 in die Firma eingetreten bin“, sagt Gustav Scheid, „gab es im Laden sogar Blockabfertigung.“ Nur so konnte der Ansturm der Kunden bewältigt werden. Alle brauchten Stoff. Alle wollten neue Kleider, die das Lebensgefühl dieser Ära spiegelten.

„Und als Kanzler Adenauer es geschafft hatte, dass viele aus der Gefangenschaft nach Hause durften, profitierten wir erneut“, sagt Scheid. Denn unter den Heimkehrern waren auch viele Schneider. „Zu dieser Zeit hatten wir alleine 160 Stuttgarter Schneider in unserer Kundendatei“, erzählt Scheid. Heute kann man die Maßschneider der Stadt wahrscheinlich an einer Hand abzählen.

Die Wende, besser gesagt der Niedergang, einer ganzen Branche, setzte bereits in den 1960er-Jahren ein. „Bis dahin hatten wir in ganz Deutschland sechs Filialen, 16 000 Kunden und 350 Mitarbeiter“, erinnert sich Gustav Scheid, „aber ab 1968 mussten wir uns radikal dem Markt anpassen.“ Fast alle Schneider seien in die Industrie abgewandert, der Markt sei regelrecht ausgetrocknet. Die Brüder und damaligen Chefs, Rolf und Günter Scheid, mussten Zug um Zug Filialen schließen.

Am Ende blieb nur das Stammhaus in der Tübinger Straße übrig, wo noch lange Zeit auf Maß geschneidert wurde. „Aber die Mode hat uns schließlich im Stich gelassen“, sagt Gustav Scheid, „1999 haben wir dann Schluss gemacht.“ Wie so viele andere Traditionsfirmen im Gerberviertel. „Ja, das Viertel hatte früher Glanz“, sagt Scheid etwas verklärt und beginnt mit langem Atem eine Liste aufzuzählen. Lotterie Glöckle, Zahn und Nopper und und und.

Das feine Tuch ist nur schwer zu bekommen

Gleichwohl lässt sich Scheid nicht von der Nostalgie hinwegreißen: „Ich finde die Tübinger Straße und das Gerberviertel haben sich dank des Shared Space gut entwickelt.“ Dass nun auch bald gegenüber des früheren Tuchhauses Scheid wieder ein Herrenschneider eröffnet, hört der alte Herr gern.

Freilich, auch diese Schneiderei wird wohl in erster Linie auf Maß-Konfektion setzen. Also nicht wie damals üblich nur auf Fein-Maß. Diese alte Kunstfertigkeit, als Schneider-Meister allein mit ihrem geschulten Blick noch die Herren vermaßen und jede Falte individuell der Figur anpassen konnten, wird nur noch ganz selten in der Stadt praktiziert. Zum Beispiel in der Maßschneiderei von Breuninger oder bei Andreas Hildebrand. Aber immerhin. So erlebt das Gerberviertel wenigstens eine kleine Renaissance dieses ehrwürdigen Handwerks, zu der auch die Modeschule Kehrer ihren Beitrag leistet.

Ohnehin schon im Viertel etabliert, hat Brigitte Kehrer im Einkaufscenter Gerber eine kleine Spielwiese eröffnet. Vier Modeschülerinnen basteln, kreieren und schneidern in einem Pop-up-Store vor den Augen der Passanten an ihren Entwürfen. Aber sie geben allen Hobby-Schneidern auch Tipps und verraten gute Ideen. Nur mit einem können die Kehrer-Schülerinnen nicht dienen: mit edlen Stoffen.

Das feine Tuch ist seit 1999 nur noch schwer in der Stadt zu bekommen.

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