Untersuchungsausschuss des Landtags will Hintergründe des Wasserwerfer-Einsatzes aufklären.

Stuttgart - Seit dem Wasserwerfereinsatz gegen Stuttgart-21-Demonstranten liegt ein dunkler Schatten über dem Bahnprojekt. Der Rückblick zeigt, wo die Polizei am 30.September Fehler gemacht hat, welche Konsequenzen das hat - und wer von diesem "schwarzen Donnerstag" profitiert.

Die erste Fontäne schießt hoch in den grauen Himmel über dem Stuttgarter Schlossgarten. Die zweite jagt über die Köpfe der Demonstranten. Dann macht der Mann Ernst. Er senkt das Rohr des Wasserwerfers noch ein wenig tiefer - und der nächste heftige Wasserstoß klatscht in die Menschenmenge. Es ist 12.48 Uhr, am Donnerstag, 30.September 2010.

Es war bereits am Vormittag zu harten Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Stuttgart-21-Demonstranten gekommen. Die Polizei setzt Pfefferspray ein - aus ihrer Sicht ein noch härteres "Hilfsmittel körperlicher Gewalt" als ein Wasserwerfer. Aber die grünen Ungetüme auf Rädern haben ihre eigene Symbolkraft. Seit über 50 Jahren war bis dahin in Stuttgart kein Wasserwerfer-Einsatz gegen Menschen mehr befohlen worden. Auch darum ist der 30.September 2010 eine Zäsur.

Es wird ein düsterer Tag für die Landeshauptstadt: Ein Demonstranten verliert ein Auge, drei werden schwer, mindestens 130 leicht verletzt. Polizei und die schwarz-gelbe Landesregierung stehen plötzlich am Pranger. Das umstrittene Bahnprojekt verliert vollends seine Unschuld: Ohne Gewalt scheint Stuttgart21 nicht durchsetzbar.

Den Beschluss, am letzten Septembertag die Baustelle im Park einzurichten, hatten Siegfried Stumpf, der Polizeipräsident, und Hany Azer, Leiter des Bahnprojekts Stuttgart-Ulm, schon im Sommer gefasst. Beide haben's eilig: Stumpf drängt, weil er den Bau eines Widerstandsdorfes Õ la Wackersdorf befürchtet; Azer macht Druck, weil seine Baustellen in Verzug sind.

Ob höhere Instanzen aus der Villa Reitzenstein oder dem Bahn-Vorstand auf den Termin Einfluss nehmen, gehört zu den Fragen, die SPD und Grüne von diesem Dienstag an im Untersuchungsausschuss des Landtags aufklären wollen. Fakt ist: Vom 1. Oktober an erlaubt das Gesetz der Bahn Baumfällarbeiten im Schlossgarten - und allein deshalb ist der 30. September im Kalender der Projektgegner seit Monaten rot markiert. Die Hoffnung von Stumpf und Azer, den Termin geheim zu halten, sie ist von Anfang an wie eine Seifenblase.

Wasserwerfer zur Sicherung der Baustelle

Am 20. und 27. September informiert Stumpf Verkehrsministerin Tanja Gönner über den bevorstehenden Einsatz; am 29.September lässt sich der Regierungschef in der Villa Reitzenstein ins Bild setzen. "Herr Mappus wollte hören, wie die Polizei vorgeht und wofür die Wasserwerfer sind", erinnert sich ein Teilnehmer.

Stumpf, der seit 1970 Polizist ist und den Job von der Pike auf gelernt hat, gilt als erfahrener, kompetenter, pflichtbewusster Polizeipräsident. Dass der "P" den heiklen Einsatz leitet, ist für ihn selbstverständlich. Der 59-Jährige fühlt sich dazu in der Lage: Erst drei Monate zuvor hat er die Stuttgart-21-Gegner düpiert und dafür gesorgt, daass der erste Bauzaun am alten Hauptbahnhof ohne Zwischenfälle errichtet werden kann. Diesen Coup will er im Schlossgarten wiederholen. Die Wasserwerfer, die er dieses Mal bei der Bereitschaftspolizei Biberach anfordert, will Stumpf nachts, zur Sicherung der Baustelle und der eigenen Truppe, einsetzen. Sie sollen hinter den Zaun.

"Man hat befürchtet, dass sich auch Demonstranten außerhalb des bürgerlichen Potenzials einfinden", sagt ein Beamter. Die Polizei bereitet sich auf Randale mit dem Schwarzen Block aus Hamburg, Berlin oder Hannover vor. Auch aus dem politischen Bündnis gegen Stuttgart21 werden Warnungen vor Linksradikalen, Autonomen und Krawallmachern laut.

Doch der Schwarze Block kommt nicht. Das ist der große, verhängnisvolle Irrtum an diesem Tag. Als die ersten zwei Wasserwerfer und eine Hundertschaft Bundespolizei in den Park einrücken, steht ihnen stattdessen eine bunte Menge S-21-Demonstranten gegenüber, die bis dahin die eher nachgiebige Seite der Polizei kennengelernt hat. Ganz vorne stehen junge Leute, die von einer Schüler-Demo gegen den "Prestigebahnhof" hergeeilt sind. Stumpf hat sich darauf verlassen, dass sie sich an die Auflagen halten und erst um 12Uhr zur Kundgebung im Park eintreffen. Noch ein Irrtum.

Auch bei der Vernetzung der Stuttgart-21-Gegner mit Twitter, Mail und SMS verschätzt sich die Polizei. Um 10.31 Uhr werden auf einen Schlag 25000 Aktivisten der Parkschützer-Initiative alarmiert. Wortlaut der Meldung: "Polizei mit Großaufgebot im Anfahrt, es ist Ernst. Kommt jetzt sofort in den Park!!!" Als um 10.45 Uhr rund 600 Polizisten aus fünf Bundesländern im Park sind, warten dort mindestens so viele Demonstranten. Und es werden immer mehr.

Man habe anfangs unentschlossen deeskaliert und sich "zum Spielball" machen lassen, kritisiert ein Beamter. Bis Stumpf um 11.53 Uhr über Funk den "UZW" freigibt - den "unmittelbarem Zwang" mit Pfefferspray und Wasserwerfer -, werden Polizeifahrzeuge besetzt und die Besatzung des Wasserwerfers veralbert. So entsteht der fatale Eindruck, dass es die Polizei vielleicht doch nicht Ernst meint.

Polizei schätzt Lage falsch ein

Aber auch die Polizei schätzt die Lage zunächst falsch ein. Die Einsatzleitung kommt mit der hohen Emotionalität der Projektgegner am Tag X" nicht zurecht. Die Menge blockiert die Straße, ruft "Unser Park!", gibt bald keinen Meter mehr preis. "Bisher war Stuttgart21 der Feind - jetzt ist die Polizei der Feind", klagt ein Beamter, der in vorderster Linie steht. Es kommt zu hässlichen Szenen auf beiden Seiten. Nun rächt sich, dass es keine Vertrauensbasis zwischen Polizei und Protestbewegung gibt, kein tieferes Verständnis füreinander, keine belastbaren Absprachen für den Ernstfall.

Die Auseinandersetzung findet nicht nur im Park, sondern auch auf einer zweiten, der medialen Ebene statt. Während die Polizei Sitzblockaden räumt, stellt die Protestbewegung bereits erste Filme und Fotos von der Schlacht um den Schlossgarten und den "Opfern der Polizeigewalt" ins Internet. Es sind wahre Bilder, aber die Bildauswahl ist subjektiv. Dass sich die "Kampfzone" zum Beispiel auf 20, 30 Meter Straße vor den Wasserwerfern beschränkt und dass gleich daneben Protestler und Schaulustige unbehelligt auf dem Rasen stehen, zeigt niemand. Auch die Journalisten, Fotografen und TV-Teams konzentrieren sich auf's Spektakuläre.

Nach sechs Stunden Kampf hat die Polizei die Baustelle um 16.35 Uhr endlich abgesperrt; danach beruhigt sich die Lage. Aber der Preis ist hoch. Hat Stumpf während des Tages nie an Rückzug gedacht? Man weiß es nicht. Kommende Woche soll er im Untersuchungsausschuss aussagen. Vorher sagt er in der Öffentlichkeit kein Wort.

War Stumpf am 30.September immer ausreichend im Bilde? Zweifel sind erlaubt. Von 12 bis 12.45 Uhr musste er den Einsatz bei einer Pressekonferenz der Bahn im Landtag erklären. Auch später ist der "P" phasenweise nur per Funk mit seinen Führungskräften an den Brennpunkten verbunden. "Hätte Stumpf alles mit eigenen Augen gesehen, er hätte vielleicht manches anders gemacht", meint einer, der den heute 60-jährigen Präsidenten aus der Nähe kennt.

Dass sich die politische Führung direkt in den Stuttgart-21-Einsatz eingeschaltet hat, ist unwahrscheinlich. Im Innenministerium hätte man den Einsatz zwar über das neue EDV-Programm "Viadux" fast in Echtzeit verfolgen können. Falls sich die höhere Ebene aktiv einmischt, hätte das in Viadux aber ebenfalls Spuren hinterlassen.

Es gibt Polizisten, die sich das wünschen: mehr Einmischung, mehr Rückendeckung seitens der Regierung, und klare Ansagen gegenüber den Bürgern. "Viele Kollegen sind seit dem 30.September verunsichert, wissen nicht, wie sie sich bei der nächsten Demo richtig verhalten sollen", erzählt ein Polizeibeamter. Dabei müsse die Politik doch kapieren: "Wer Stuttgart 21 durchsetzen will, wird auch künftig um den Einsatz von Wasserwerfern nicht herumkommen."