Roland Ostertag: Zahlen allein können nicht Antrieb für verkehrspolitische und bauliche Planung sein.

Stuttgart - Technische Großprojekte, bei denen nur ein Kriterium, etwa das der Höchstgeschwindigkeit, zählt, werden zunehmend infrage gestellt. Die Menschen ahnen, dass dies ein Denken in Kategorien des 19. Jahrhunderts ist, getragen vom Fortschrittsglauben an eine überholte Technik.

Weltweit beschäftigen sich Konferenzen mit der Misere der Städte, diskutieren Perspektiven des Wohnens und formulieren immer lauter Forderungen nach einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Solch positive Beispiele gibt es ja - nicht nur in Amsterdam. Zu oft aber ist kein geistig-gedanklicher, kein der Komplexität der Aufgabenstellung angemessener Ansatz zu erkennen. Zu oft dominieren Zahlen als bloße Argumente. Was aber wäre als das buchstäbliche Dahinter zu entdecken und zu untersuchen? Ein Blick auf das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm und das darin eingeschlossene Verkehrs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21 soll die Widersprüche und Möglichkeiten andeuten.

Zwischen Mannheim und Stuttgart fahren wir heute bereits 50 Kilometer unter der Erde mit einer Geschwindigkeit von mehr als 200 Kilometern pro Stunde. Die Bahnplanungen um Stuttgart sehen mindestens 100 Kilometer unter der Erde vor, 15 Kilometer vor, 15 Kilometer nach Stuttgart, zehn Kilometer auf die Filder. Bei der Neubaustrecke Stuttgart-Ulm sind 60 Kilometer Tunnel geplant - Tendenz steigend. Was bedeutet das?

Ankommen und Abschied, überhaupt Reisen, sind Schlüsselerlebnisse unseres Lebens. Sie sind verbunden mit Emotionen wie Schmerz und Freude, Erwartung und Enttäuschung, Fern- und Heimweh. Es geht um das Kennenlernen, das Wiedererkennen, um Bilder, Landschaften, Menschen und Städte. Eduard Mörike beschreibt in seinem Gedicht "Wanderung" die Ankunft in seiner Heimatstadt Stuttgart:

"In ein freundliches Städtchen tret ich ein, In den Straßen liegt roter Abendschein."

Als Stuttgarter Bürger wissen wir, wie es weitergeht, er beschreibt auch die Abreise:

"Wie ich hinaus vors Tor gekommen, / Ich weiß es wahrlich selber nicht. / Ach hier, wie liegt die Welt so licht!"

Und heute? Als Ankommende erleben wir eine Stadt, umgeben von einer blühenden Landschaft, von einem Außerhalb, dem ein ebenso charakteristisches Innerhalb entspricht. Man kommt an Höhenzügen vorbei, durchquert sie - wie die Parks, die Anlagen-, fährt mitten in die Stadt, geprägt von ihrem Naturraum, ihrer Topografie, den Menschen, ihrem Charakter. Anders als andere Städte gibt sich unsere Stadt zu erkennen: ein einmaliges Erlebnis. Diese und andere Erlebnisse sollen nun aus verkehrlichen Gründen der Vergangenheit angehören? In Zukunft sollen wir unterirdisch ankommen. Warum? Nur um der Geschwindigkeit, der Fahrzeitverkürzung um einige Minuten willen? Dies zu unterstellen wäre Beleidigung.

Der Traum von der Stadt unter der Erde

Leonardo da Vinci beschreibt unsere Gefühle beim Übergang von außen nach innen, beim Eindringen in eine Höhle, unsere Angstlust, abgestoßen von der Erde, angestoßen vom Geheimnis. Doch diese Ambivalenz, diese Dialektik, wurde in der Neuzeit zunehmend aufgelöst - zugunsten einer technisch-pragmatischen Sicht. Die Literatur nimmt diese Entwicklung vorweg. So skizziert Franz Kafkas Erzählung "Der Bau" die Flucht des Menschen aus der verunstalteten Oberwelt in die Unterwelt. Und Goethe formuliert schon in einem Brief an Lavater am 22. Juni 1781 gleichnishaft: "Unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken miniert, wie eine große Stadt zu sein pflegt."

Unser Menschen-Trachten geht schon immer dahin, sich von der Natur, ihren Unbilden, ihren Gefahren, Unwägbarkeiten und Zufällen, damit von einer unvollkommenen Welt abzukoppeln, sich vor ihr zu schützen, sie perfekt zu machen. Diese unstillbare Sehnsucht, die Maschinerie des Schöpfers zu beherrschen, in sie einzudringen, benötigt eine örtliche, eine räumliche Isolation, einen U-Topos, einen Un-Ort, eine möglichst perfekte utopische Welt. Die Suche nach dieser Welt zieht sich durch unsere ganze Geschichte. Heilige, Dichter, Architekten voran, später kamen die Ingenieure dazu, denn ein solcher Ort muss ja technisch perfekt funktionieren. Man siedelte diese Orte zunächst in zwei Reichen an, im Himmelreich und im Erdreich. In zunehmendem Maße nur mehr im unterirdischen Reich.

Die Geschichte von uns Architekten und Ingenieuren ist voll von diesen Versuchen, vor allem seit Beginn des 20. Jahrhunderts. So legten Planer in den 1920er Jahren zunächst einzelne Einrichtungen, dann ganze Städte unter die Erde. Erinnert sei nur an Werner Pichlers Röhrenstadt. Dieses Nicht-verortet-sein muss folgerichtig versuchen, die Zeit auszuschalten - die Tageszeit, die Jahreszeit, die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. Damit haben die Zeiten in der Zeit keinen spezifischen Ort mehr und erheben sich im Ganzen über und unter die Zeit. Mit der Zeit wird auch die Geschichte ausgeschaltet, ebenfalls ein Traum des 19. Jahrhunderts, der frühen Moderne. Die Vergangenheit wird auf diese Weise von der utopischen Gegenwart verdrängt.

Was einmal der Dialog, die Dialektik zwischen Oben und Unten, zwischen Himmel und Hölle, zwischen der Innen- und Außenwelt war, wird reduziert auf Technisch-Pragmatisches, Eindimensionales, Machbares - den Menschen mit seinen Sehnsüchten, seinen Unzulänglichkeiten, seinen Schmerzen und Freuden vernachlässigend. Oder können wir uns in der unterirdischen Welt Ankunft und Abschied mit allen ihren, auch emotionalen Dimensionen vorstellen?

Und die Geschwindigkeit? Auch dieses Thema hat seine lange Geschichte. In Eile verließen wir das Paradies, seither immer in Bewegung, auf der Flucht, um neue Paradiese zu suchen. Und auf dieser Flucht müssen wir uns immer überwinden, weiterbringen, höher erheben, nicht nur ideell, vor allem physisch-materiell, um unsere Mission als Zukunftswesen zu erfüllen. Ende des 19. Jahrhunderts begrüßt Carl Maria von Webers erster Sohn Max Maria enthusiastisch, dass es gelungen sei, die Natur ganz in den Dienst des Menschen zu stellen, vor allem die menschliche Abhängigkeit der Bewegung zu überwinden. Seine Schrift hat den Titel "Vom rollenden Flügelrade". Wie das Thema des Unterirdischen feierte auch das Thema Geschwindigkeit im 19. und im 20. Jahrhundert Triumphe. So heißt es bei Le Corbusier 1925: "... die Stadt ist zu alt ... die Stadt ist eine Unmöglichkeit ... die Stadt der Geschwindigkeit ist die Stadt des Erfolges..."

Der Hass auf die Städte und die Geschwindigkeit als Ziel hat ihren Preis, auch den, dass wir keine Orte der Kontemplation, der Stille, des Verweilens, des Gesprächs mehr benötigen und nicht besitzen. Unsere unterirdischen Orte, die Metro- und U-Bahnhöfe, sind Orte der Geschwindigkeit. Sie sind, sie sollen voller Menschen sein, die meisten "unstet und flüchtig", wie Max Bense es ausdrückt. Züge rasen heran, in immer kürzeren Zeitabständen. Da die Bahnhöfe tief unter der Erdoberfläche liegen, werden Beförderungsmittel, Förderbänder, Rolltreppen, Lifte benötigt. In einer Richtung sich bewegend, ohne Möglichkeit der Umkehr. Max Bense warnt vor der Zerstörung der Orte, der Städte durch die Geschwindigkeit zwischen ihnen, denen "die Eile das Aussehen raubt"; weil wir unter ihnen dahinrasen und ankommen. Wir werden unserer Innen- und Außenbilder beraubt - und flüchten in Ersatzbilder, in virtuelle Bilder. Die Welt unserer Sinne wird aufgelöst, nach der Originalität verschwinden die Originale, nun existieren nur noch Kopien ohne Originale. Die neue Stadt ist eine in mehrfacher Hinsicht entleerte Stadt, und nachdem sie entleert ist, ist es durchaus konsequent, nicht mehr in der entleerten Stadt anzukommen, sondern in der neu geschaffenen unterirdischen Stadt, in der inszenierten Leere. Wollen wir das?