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„Wahltag ist Zahltag“ drohen Zehntausende bei erster Großdemo des Jahres.

Stuttgart  - Bei der ersten Großdemonstration gegen Stuttgart 21 in diesem Jahr haben am Samstag Tausende friedlich den Baustopp des Bahnprojekts gefordert. Erneut gab es abweichende Teilnehmerzahlen: Über 40000 Demonstranten zählte das Aktionsbündnis, 13000 ermittelte die Polizei.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht: Ein Wasserwerfer soll unterwegs zum Einsatz im Bereich des Hauptbahnhofs sein, wo sich am Samstagmittag Tausende Menschen zur Protestkundgebung mit dem Motto "Jetzt erst recht: Widerstand plus" gegen das 4,1 Milliarden Euro teure Tiefbahnhofprojekt versammelten. Derartige Polizeifahrzeuge waren Ende September im Schlossgarten zum Einsatz gekommen. Vier Demonstranten waren durch Wasserstrahlen an den Augen schwer verletzt worden. Die Befürchtungen zerstreuten sich schnell. Projektgegner hatten einen ausgemusterten Wasserwerfer zum Demomobil umfunktioniert, das an die gewaltsame Räumung des Parks erinnern soll. "Mit Hochdruck gegen Bürger und Demokratie", prangt auf dem grünen Oldtimer, Baujahr 1968. Nach Angaben der Initiatoren soll es in den nächsten Monaten landesweit etwa bei Wahlkampfveranstaltungen Präsenz zeigen.

Die Landtagswahl am 27. März thematisierten alle Redner der Kundgebung. "Es ist höchste Zeit für eine neue Mehrheit im Landtag", rief Winfried Hermann, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Die Wahl werde nicht nur zur Abstimmung über den geplanten Durchgangsbahnhof, sondern auch über den künftigen Politikstil im Land. "Stuttgart 21 steht für eine falsche, überholte, menschenverachtende und skandalöse Politik. Ein modernisierter Kopfbahnhof K21 dagegen für ökologisch, sozial und nachhaltig", sagte Hermann. Heftig kritisierte der Tübinger Grüne zudem das Vorgehen der Bahn, den vereinbarten Stresstest von Stuttgart 21 ohne Beteiligung des Aktionsbündnisses durchzuführen. "Einen derart intransparenten Test können wir nie und nimmer akzeptieren." Eine Betriebssimulation soll eine 30 Prozent höhere Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs gegenüber dem Kopfbahnhof nachweisen.

Ebenfalls kritisch äußerte sich Matthias Oomen, Sprecher des Fahrgastverbands Pro Bahn, zur neuen Bahnhofsinfrastruktur. Weil Stuttgart 21 kein Ausweichen mehr über die Gäubahn biete, würden sich Störungen im Stuttgarter S-Bahn-Netz auch im Fernverkehrsnetz bis nach Hamburg, Köln und Berlin bemerkbar machen.

"Das kann nicht die Zukunft sein, dass ein ganzes Land von Stuttgart 21 abhängig ist", rief Oomen. Mehr Akzeptanz für die Schiene würden andere Bahnprojekte in Deutschland schaffen. Zudem seien die Bürger an Planungsprozessen von Anfang an zu beteiligen. "Die Bahn hat die Rheintalstrecke 42 Jahre lang dilettantisch geplant", erinnerte Oomen an die jüngste Planungspleite. Das Freiburger Regierungspräsidium hatte vor kurzem die Planungen des Ausbaus im Abschnitt Offenburg wegen unzureichendem Lärmschutz als nicht genehmigungsfähig gestoppt. "Ein Bahntunnel in Offenburg ist wichtiger als in Stuttgart", forderte er einen am Nutzen, statt am politischen Einfluss orientierten Einsatz von Milliardenmitteln.

Ähnlich äußerte sich der Regisseur Klaus Hemmerle, der die Anhänger eines modernisierten Kopfbahnhofs auch nach dem Schlichtervotum zum Weiterbauen als Verfechter des Fortschritts bezeichnete: "Wer die Schlichtungsgespräche halbwegs verfolgt hat, kann nicht nachvollziehen, wie es zu so einem Ergebnis kommt." Die politischen Ereignisse in den arabischen Staaten färbten am Samstag auch auf Stuttgart ab. Redner bekundeten ihre Solidarität mit den Menschen in Ägypten und Tunesien. Auf Plakaten wurde Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) in eine Reihe mit dem gestürzten tunesischen Staatschef Ben Ali und dem unter Druck geratenen ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak gestellt. Mehrfach skandierte die Menge "Mappus weg".

Als Gastredner forderte der alternative Nobelpreisträger Francisco Whitaker Ferreira die Demonstranten auf, nicht nachzulassen. "Euer Protest wird weltweit beachtet." Vor der Kundgebung hatten Projektgegner am Nordausgang des Hauptbahnhofs Hunderte Vogelhäuschen in Bäumen aufgehängt, die einem Technikgebäude und der Baugrube des Tiefbahnhofs weichen müssen. Nach dem Schlichterspruch hatte die Bahn angekündigt, die 83 Gehölze verpflanzen zu wollen. Die Parkschützer-Initiative lehnt die Versetzung aus stadtklimatologischen Gründen ab. "Eine Verpflanzung ist ein Fällen auf Raten", hält Parkschützer-Sprecher Matthias von Herrmann die Bäume wegen ihres Alters für ungeeignet zum Versetzen.

Wie bei früheren Demonstrationen waren sich Veranstalter und Polizei uneins über die Teilnehmerzahl. "14 Leute haben mit Klickzählern genau 40730 Demonstranten gezählt", betonte Muhterem Aras als Sprecherin des Aktionsbündnisses. Erwartet wurden 25000 Teilnehmer. "Trotz klirrender Kälte war die Beteiligung super, die Wechselstimmung im Volk ist spürbar", sieht die Grünen-Fraktionsvorsitzende im Stuttgarter Gemeinderat die Protestbewegung im Aufwind. Um Doppel- oder Fehlzählungen etwa von Passanten oder Reisenden zu vermeiden, habe man erst beim anschließenden Demonstrationszug über den City-Ring gezählt. Die Polizei dagegen kam mit circa 13000 Demonstranten auf deutlich weniger Teilnehmer. Den Überblick verschafften sich die Ordnungshüter aus einem Hubschrauber, der minutenlang über dem Hauptbahnhof kreiste. "Von oben können wir die Teilnehmer besser abschätzen", so Polizeisprecher Stefan Keilbach. Leichter zu benennen war die Zahl der Stuttgart-21-Gegner, die am Abend vor dem Mercedes-Museum in Bad Cannstatt demonstrierten. Vergeblich hofften rund 20 Projektgegner, sich bei der dort weilenden Bundeskanzlerin Gehör zu verschaffen.