Dass die Arbeiten am Großprojekt begonnen haben, ist überall in der Stadt unübersehbar. Zum Lärmschutz für die Anwohner fehlen aber noch konkrete Pläne. Foto: Michael Steinert

Anwohner der Baustellen lassen sich bei einer Versammlung von einem Fachanwalt beraten, wie sie gegen Baulärm vorgehen können. Der wirft dem Eisenbahnbundesamt Untätigkeit vor und fordert eine Entscheidung ein.

S-Mitte - Die Materie ist zähflüssig, es geht um Juristerei. Aber den rund 80 Zuhörern in dieser Runde fließen Begriffe wie Allgemeine Verwaltungsvorschrift Baulärm oder Umweltinformationsgesetz ebenso holperfrei über die Zunge wie dem Referenten, den sie eingeladen haben. Der heißt Tobias Lieber und ist Fachanwalt für Immissionsschutzrecht, stolperfallenfrei formuliert: für Gesetze, die Anwohner von Baustellen vor Lärm schützen sollen.

Allen gemeinsam, die im Saal der Erlöserkirche sitzen, ist, dass sie vom Baulärm erlöst werden wollen. So gut wie allen gemeinsam ist, dass sie schon zuvor zu den Gegnern von Stuttgart 21 zählten. Aber heute geht es nicht um den Grundsatz, sondern um den Lärm, der von den S-21-Baustellen ins Kernerviertel schallt, durchs Nordbahnhofviertel, den Killesberg hinan, durch Wangen und Untertürkheim.

Die erste Beschwerde ruht beim Eisenbahnbundesamt

In diesen Quartieren haben sich Betroffene zu den sogenannten Netzwerken zusammengeschlossen. Aus ihnen sind sie gekommen, um sich juristischen Rat zu holen, womöglich tätige Hilfe. Für Anwohner des Kernerviertels hat Lieber vor zwei Monaten eine Beschwerde ans Eisenbahnbundesamt geschickt. Bisher fehlt die Antwort. Die Untätigkeit „finde ich bemerkenswert und verstehe sie nicht so richtig“, sagt der Rechtsanwalt. Denn wirklich interessant werde es nach drei Monaten des vergeblichen Wartens. Nach denen können Lärmgeplagte laut Lieber per Eilverfahren eine Entscheidung erzwingen und mit einer Klage „auch einen Baustopp erwirken, grundsätzlich geht das und dauert nur ein paar Wochen“, sagt der Rechtsanwalt und nennt ein paar Beispiele, in denen eben dies gelungen ist.

Selbstverständlich spricht er nicht vom Aus fürs Großprojekt, er spricht davon, eine Baustelle vorübergehend stillzulegen, wenn auf ihr Lärmgrenzwerte durchstoßen werden. Schluckt eine eilige aufgestellte Schutzwand genügend Schall, darf weitergearbeitet werden. Die Grenzwerte sind in jener Allgemeinen Verwaltungsvorschrift Baulärm festgeschrieben. Die stammt aus dem Jahr 1970, ist mithin hoffnungslos veraltet, „aber sie gilt“, sagt Lieber. So sei es überdies, eigentlich überflüssigerweise, nochmals in den Unterlagen zur Planfeststellung niedergeschrieben.

Bei 40 Dezibel endet demnach die Zumutbarkeit in typischen Wohngebieten bei Nacht. Die Bahn wünscht sich einen Aufschlag von fünf Dezibel Toleranz, was flapsig formuliert etwa dreimal so laut bedeutet. „Diese Klausel würde das Bundesverwaltungsgericht sicher nicht überstehen“, sagt Lieber. Käme es so, müsse die Bahn zuerst leisere Maschinen einsetzen und Schallschutzwände aufstellen. Erst wenn dies nicht hilft, ist der Einbau von Schallschutzfenstern Vorschrift, im Zweifel mitsamt Belüftungsanlagen, weil jene Fenster nicht geöffnet werden können. Derlei müssen Anwohner erdulden, weil Schienenbauten als öffentliches Interesse gelten, aber umgekehrt muss die Bahn eben den Schallschutz gewährleisten.

In ihrer Tiefe sind die Vorschriften gegen Lärm vertracht

Das ist der Grundsatz. In ihrer Tiefe sind die Vorschriften vertrackter. Über Gebühr lärmende Maschinen auf einer Baustelle im Wohngebiet können umgehend stillgelegt werden. Schallt der Lärm von außerhalb des Wohngebiets hinüber, gelten andere Grenzen. Schuttlaster unterliegen keiner Regel, wenn sie auf öffentlichen Straßen durch das Nordbahnhofviertel rumpeln. Bei Zügen, die jenen Schutt weitertransportieren, wäre entscheidend, ob sie auf alten Gleisen fahren oder auf eigens verlegten. Für erstere gilt ebenfalls praktisch keine Pegelgrenze, letztere könnte ein Gericht der Baustelle zuschlagen. Dann gelten wiederum jene 40 Dezibel.

Bevor die durchgesetzt werden können, das betont Lieber immer wieder, „müssen Sie eine Entscheidung des Eisenbahnbundesamts erzwingen, auf die haben Bürger ein Recht“. Aber aus juristischer Sicht schweigt die Behörde. Zwar hat sie auch zum Lärm Stellungnahmen gesammelt, Zusammenfassungen abgestempelt und verschickt. Aber „das ist keine Entscheidung“, sagt Lieber, „die wäre ein Verwaltungsakt mit Anhörung, Bekanntmachung im Amtsblatt und Pipapo“. Eben dazu will er das Eisenbahnbundesamt zwingen. Wie gleich welche Entscheidung „dann rechtlich zu bewerten sein wird, ist eine andere Frage“, sagt Lieber. Heißt: Wem sie unliebsam ist, der muss gegen sie klagen.

Deshalb steht am Ausgang die Spendenkasse. Dass verlorene Prozesse teuer werden können, hat auch mancher im Saal bereits erfahren.