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Fakten, Fakes und Falschmeldungen - bei Stuttgart 21 verwischen ab und zu die Grenzen.

Stuttgart - Der Streit um Stuttgart 21 hat bundesweit ein großes Medienecho ausgelöst. Fast zwangsläufig sind zweifelhafte Informationen im Umlauf. Fakten, Fakes und Falschmeldungen - in der öffentlichen Wahrnehmung verwischen die Grenzen.

Hunderte von Anzeigen gegen Demonstranten und Polizeibeamte beschäftigen die Staatsanwaltschaft. Was am 30.September im Mittleren Schlossgarten wirklich passiert ist, weiß noch keiner genau. Es wird Wochen dauern zu filtern, was strafrechtlich von Belang ist. Derweil haben Behauptungen, Gerüchte und Fakten längst Wirkung entfaltet. Medien, die verantwortungsvoll berichten wollen, müssen immer aufwendiger ermitteln - eine Suche nach Phantomen im Park.

Die tote Frau.

Am Abend des Polizeieinsatzes macht die Nachricht die Runde, eine ältere Frau sei in der Menge zusammengebrochen und auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Hat der Polizeieinsatz ein erstes Todesopfer gefordert? Nachfragen bei der Leitstelle von Feuerwehr und DRK ergeben noch am selben Abend, dass es einen solchen Fall nicht gibt. Auch die Demo-Sanitäter, ehrenamtliche Helfer aus den Reihen der Stuttgart-21-Gegner, halten in einem internen Bericht fest: "Es gab zwar definitiv eine Meldung über eine Reanimation, die aber ebenso definitiv falsch war."

Dennoch verkündet am nächsten Tag bei der Großkundgebung vor Zehntausenden im Schlossgarten der Moderator Christoph Reinstadler von den aktiven Parkschützern: "Gegen 17 Uhr, eine Frau, etwa 60, stürzt, nachdem sie von einem Polizisten zu Boden gestoßen wurde, nicht mehr aufstand und auf der Fahrt ins Krankenhaus verstarb. Krankenhäuser und offizielle Stellen blockieren Informationen an die Presse." 

Schwäbische Pflastersteine.

Schwäbische Pflastersteine.

Polizisten melden über Funk, dass aus den Reihen der Demonstranten mit Gegenständen geworfen wird. Bald ist von Pflastersteinen die Rede. Eine Sprecherin des Innenministeriums erfährt davon kurz vor 19 Uhr und bestätigt dies gegenüber einer Nachrichtenagentur. CDU-Landtagsfraktionschef Peter Hauk nimmt die Munition mit in die SWR-Fernsehsendung "Zur Sache extra", wo er um 20.32 Uhr erklärt: "Umgekehrt waren es jede Menge Demonstranten, die Pflastersteine geworfen haben." Dass die Sprecherin die Meldung in diesen Minuten zurückzieht, erreicht ihn nicht. Um 20.37 Uhr sendet dpa eine Berichtigung. Es bleiben Hohn und Spott über die schwäbischen Pflastersteine - es waren wohl Kastanien.

Verletzten-Zählung.

Verletzten-Zählung.

Der Polizeieinsatz soll mehrere Hundert Verletzte gefordert haben. Parkschützer-Sprecher Matthias von Herrmann spricht von "400 Augenverletzten", die im Bereich des Biergartens von den eigenen Demo-Sanitätern behandelt worden seien. Wie gezählt wurde, sagt er nicht. In einem internen Zwischenbericht ist von 320 Patienten mit Augen-, Haut- und Schleimhautreizungen die Rede. Bei weiteren 47 habe man Prellungen, Kopfplatzwunden, Rippenbrüche und eine schwere Augenverletzung diagnostiziert.

DRK und Feuerwehr haben 130 Betroffene behandelt und namentlich registriert, 16 davon wurden ins Krankenhaus transportiert. In den Kliniken kamen weitere 20 Patienten ohne Rettungsdienst an. Somit gab es 150 Betroffene. Die Polizei meldet zunächst sechs verletzte Polizisten, bessert eine Woche später nach: Polizeipräsident Siegfried Stumpf berichtet von 34 verletzten Beamten. Macht zusammen: 184.

Das Schlachtfeld.

Das Schlachtfeld.

Parkschützer-Sprecher Matthias von Herrmann wirft dem Roten Kreuz "unterlassene Hilfeleistung" vor. Die Helfer seien "nicht in den Schlossgarten gekommen", weil "die Polizei den Park zum Sperrgebiet erklärt" habe. Tatsächlich gab es im Mittleren Schlossgarten bei den Schachtfeldern zwischen Biergarten und Café am See einen DRK-Behandlungsplatz. "Es ist nicht sinnvoll, unsere Kräfte vor die Wasserwerfer zu schicken, um dort Leute zu behandeln", sagt DRK-Sprecher Udo Bangerter. Im Zelt, 150 Meter vom Geschehen entfernt, habe man auch so alle Hände voll zu tun gehabt. Laut Leitstelle waren 185 Rettungskräfte am Einsatzort.

Die Schwerverletzten.

Die Schwerverletzten.

In der "Tagesschau" am 5. Oktober sagt Parkschützer von Herrmann: "Wir haben teilweise schwere Verletzungen, auch mit einem Schädelbasisbruch sogar, die kann man nicht einfach wegdiskutieren." Ein Schädelbasisbruch ist bis heute nicht bestätigt: Bei den vier stationär aufgenommenen Patienten handelt es sich nach Auskunft von Katharinenhospital und Charlottenklinik ausschließlich um Augenverletzungen. Dietrich Wagner, 66, wird auf einem Auge blind bleiben, teilte das Katharinenhospital am vergangenen Mittwoch mit.

Wer angefangen hat. "Massiver Widerstand" sei der Grund gewesen, Pfefferspray, Wasserwerfer und Schlagstöcke einzusetzen, sagt Polizeipräsident Siegfried Stumpf bei seiner Pressekonferenz am 5. Oktober. Er selbst habe um 11.53 Uhr grünes Licht für eine notfalls härtere Gangart gegeben. Um 12.20 Uhr setzte die Polizei nach eigenen Angaben erstmals Pfefferspray ein, kurz vor 13 Uhr den ersten Wasserwerfer. Den Medien zeigt die Polizei Videos von gewalttätigen Demonstranten. Dabei ist ein Vermummter bei einer Pfefferspray-Attacke zu sehen. Diese Szene führt die Beweisführung allerdings ad absurdum - als Tatzeit ist 14 Uhr eingeblendet. Die Gegner reagieren: Diese Aktion könne zeitlich niemals Auslöser für das harte Vorgehen der Polizei gewesen sein. Polizeisprecher Stefan Keilbach versucht klarzustellen: "Das hat auch nie jemand behauptet."

Tränen vorm Wasserwerfer.

Tränen vorm Wasserwerfer.

Bei der Pressekonferenz der Jugendoffensive gegen Stuttgart 21 am 8. Oktober wird erklärt: "Das Wasser der Wasserwerfer wurde mit Tränengas versetzt." Von Herrmann sieht dies durch Videos belegt: "Unter einer Plane mussten alle plötzlich husten." Polizeisprecher Keilbach widerspricht: "In den Tanks war ganz normales Wasser." Wahrscheinlicher sei, dass Reste von Pfefferspray aufgewirbelt wurden - etwa aus der Kleidung. Indiz ist der Ratschlag eines Demo-Sanitäters an einen Betroffenen: "Zieh die Klamotten aus, da steckt noch das Tränengas drin, sonst geht's nachher wieder von vorne los."

Eine Mutter erklärt in der derselben Pressekonferenz, sie habe von einem Informanten erfahren, dass der Wasserdruck unerlaubterweise auf Höchststufe 20 bar eingestellt war. Woher der Informant das wissen will, ist unklar. Auf welche Stärke der Druck wann reguliert wurde, wissen polizeiintern zunächst nur fünf Personen: der Staffelführer und die vier Kommandanten der Wasserwerfer. Die genauen Druckstufen sind schriftlich protokolliert, und es heißt, dass keine Höchstwerte eingestellt waren.

Mahnwache in Gefahr?

Mahnwache in Gefahr?

Von der nächsten Provokation berichten die Parkschützer in einer Pressemitteilung am 5. Oktober. Der Dauermahnwache, einer Anlaufstelle für Bürger und Bahnreisende am Nordausgang, drohe Räumung. "Bis heute hatte es weder seitens der Stadt noch der Bahn Hinweise gegeben, dass die Weiterführung der Mahnwache in Frage steht. Hier zeigt sich direkt wieder, was von Gesprächsangeboten des Herrn Mappus zu halten ist", klagt Parkschützerin Carola Eckstein.

Das Ordnungsamt zeigt sich befremdet. Der Pavillon sei von Anfang an befristet genehmigt gewesen. Am 1. Oktober sei das Areal in den Besitz der Bahn übergegangen. Trotzdem habe es eine schriftliche Verlängerung bis zum 5. Oktober gegeben. Tags darauf habe die Stadt mit den Parkschützern einen Alternativstandort suchen wollen - zum Ortstermin sei aber keiner gekommen.