SPD-Bundestagsabgeordneter und Träger des Alternativen Nobelpreises Hermann Scheer Foto: Kraufmann

Hermann Scheer, Träger des Alternativen Nobelpreises, über den Protest gegen Stuttgart 21. 

Stuttgart - Seit die Deutsche Bahn den Abriss des Nordflügels eingeleitet hat, gibt es bald täglich Demonstrationen gegen Stuttgart21. Für Hermann Scheer, Bundestagsabgeordneter und Träger des Alternativen Nobelpreises, sind die Proteste ein Signal für mehr Bürgerbeteiligung.

Herr Scheer, die Stuttgart-21-Gegner werfen der Politik vor - insbesondere dem Ministerpräsidenten Stefan Mappus und OB Wolfgang Schuster -, dass man zur Durchsetzung des Bahnprojekts über die Mehrheit der Stuttgarter Bevölkerung hinweggegangen sei. Teilen Sie diese Einschätzung?

Es gibt heutzutage offenkundig eine wachsende Unzufriedenheit in weiten Teilen der Bevölkerung über politische Entscheidungen; eine Entfremdung zwischen Bürgern und gewählten Repräsentanten...

...die Menschen fühlen sich nicht richtig vertreten von der Politik...

...so ist es. Die Konsequenz ist, dass eine breite Mehrheit der Bürger bei zentralen Entscheidungsfragen durch Volks- und Bürgerentscheide mitbestimmen will.

Misstrauen die Menschen womöglich der Politik oder den Politikern?

Viele Bürger sind enttäuscht über fragwürdige politische Entscheidungen und den zugrunde liegenden Entscheidungsverfahren. Darüber hinaus gibt es eine aufgeklärte Bürgerschaft, die feststellt, dass bei grundsätzlichen Entscheidungen zu sehr über sie hinweggegangen wird. Also fordert diese Bürgerschaft mehr direkte Demokratie.

Parlamente in Stadt, Land und Bund in unterschiedlichen Konstellationen sowie mehrere Gerichte haben Stuttgart 21 in den vergangenen Jahren bekräftigt beziehungsweise für rechtsmäßig erklärt. Nur: Das beeindruckt die Demonstranten nicht. Sie berufen sich darauf, dass "eine Mehrheit der Bevölkerung gegen Stuttgart 21" sei. Was halten Sie davon?

Irgendwann muss zu jeder Frage eine Entscheidung getroffen werden. Diese Entscheidung trifft in einer Demokratie eine Mehrheit. Die Frage ist freilich, wie und durch wen diese Mehrheit zustande kommt: Im Parlament nach ausführlicher Erörterung von Alternativen oder durch Abnicken von Regierungsvorlagen? Oder unter direkter Mitbestimmung der Bürger! Ich meine, der Vorstoß für einen Bürgerentscheid 2007 war ein notwendiger Ansatz. Stuttgart 21 geht alle Bürger in Stuttgart an - insofern war es ein klassischer Fall für einen Bürgerentscheid.

D as Verwaltungsgericht Stuttgart hat den Bürgerentscheid im Sommer 2009 für unzulässig erklärt. Das haben auch die Initiatoren des Bürgerentscheids akzeptiert.

Mit dem Gerichtsurteil mussten sich die Initiatoren abfinden. Für mich ist die vorangegangene mangelnde Bereitschaft des Gemeinderats, von sich aus einen Bürgerentscheid zu befürworten, der eigentliche Fehler im Konflikt um Stuttgart 21. Dabei weiß kein Mensch, wie diese Abstimmung tatsächlich ausgegangen wäre. Natürlich behauptet jede Bürgerinitiative, dass sie im Namen aller Bürger spricht. Wirklich ermitteln kann man das nicht, auch nicht durch Umfragen. Das lässt sich nur mit einem Bürgerentscheid klären.

Was bringt ein Bürgerentscheid, wenn man schon vorher weiß, dass sein Ergebnis nicht vor Gericht Bestand hat?

Fragen der Demokratie sind mehr als nur Fragen des formalen Rechts. Das hieße im konkreten Fall nämlich, die Dimension des Konflikts zu unterschätzen. Im Übrigen gibt es auch eine Reihe von Stuttgart-21-Befürwortern - nicht zuletzt in den Reihen der Stuttgarter SPD -, die inzwischen erkennen, dass es ein Fehler war, sich 2008 einem Bürgerentscheid zu versperren.

"Die Bürger sollten entscheiden dürfen"

Was halten Sie von Stuttgart 21?

Mir geht es an dieser Stelle nur darum, wie der seit 16 Jahren anhaltende Konflikt in demokratisch angemessener Weise überwunden werden kann.

Die SPD im Stuttgarter Gemeinderat und im Landtag steht zu Stuttgart 21. Ist das Ihrer Meinung nach richtig?

Ich will mich nicht über die Entscheidungsgründe meiner Parteifreunde erheben. Falsch war aber offensichtlich der bisherige Umgang mit dem Konflikt.

Daraus leiten Sie ab, dass der Bürger das letzte Wort haben sollte?

Wenn ein Vorhaben so anhaltend umstritten ist, die Bürgerschaft spaltet und eine derartige Bedeutung hat für eine Stadt, sollten auch die Bürger entscheiden dürfen. Hier geht es nicht um eine Laune. Hier geht es um eine zentrale Frage, die sehr viele Menschen bewegt.

Sie können das Rad der Zeit nicht zurückdrehen...

Das ist mir bewusst. Ich möchte an die Einsicht aller Beteiligten appellieren, speziell beim Stuttgarter Gemeinderat. Man könnte den gordischen Knoten lösen, indem man eine Bürgerbefragung startet, deren Ergebnis man anerkennt und durchsetzen hilft. Die Befragung würde nicht allzu viel Vorbereitungszeit beanspruchen und könnte den Konflikt deutlich entschärfen.

Wie sollte die Frage an die Bürger Ihrer Meinung nach lauten?

Es müsste eine ehrliche und offene Frage sein. Sonst ergibt das keinen Sinn.

Stuttgart 21 ist ein Projekt der Deutschen Bahn AG. Das Unternehmen könnte die Bürgerbefragung ignorieren, falls sie nicht im Sinne der Bahn ausgeht. Außerdem haben bereits die vorbereitenden Bauarbeiten für Stuttgart21 begonnen.

Ich glaube nicht, dass sich die Bahn dem Ergebnis einer Bürgerbefragung verschließen würde. Wahrscheinlich gibt es keinen - egal, wo er in diesem Konflikt steht -, der in der jetzigen Lage nicht klamme Gefühle hat. Wenn der Wille der Bürgerschaft abgefragt ist, kann das alle Konfliktparteien entlasten. Auch die Gegner von Stuttgart 21 müssten das Ergebnis akzeptieren, auch wenn es anders ausgeht, als sie sich erhoffen.