Eskalation im Schlossgarten: Polizisten treffen auf Stuttgart-21-Gegner Foto: Leserfotograf henner

Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler führt über 1000 Verfahren wegen der Stuttgart-21-Proteste.

Oberstaatsanwalt Bernhard Häußler untersucht, ob es bei den Protesten gegen Stuttgart21 zu Straftaten kommt - aufseiten der Polizei wie aufseiten der Demonstranten. Das Recht auf Widerstand, das mancher Protestierer für sich reklamiert, gibt es so nicht, betont Häußler.

Herr Häußler, wie viele Ermittlungsverfahren führt die Staatsanwaltschaft Stuttgart im Zusammenhang mit Stuttgart 21?

Seit den massiven Protesten gegen den Abbruch des Nordflügels am 27. Juli 2010 sind es 1088 Verfahren. Die Summe der betroffenen Demonstranten und weiteren Personen kann davon noch abweichen. Die Verfahren, die wir im Zusammenhang mit dem Polizeieinsatz im Mittleren Schlossgarten am 30. September führen, sind hier nicht enthalten, sie werden separat erfasst.

Sie meinen den sogenannten schwarzen Donnerstag, als Wasserwerfer gegen Stuttgart-21-Demonstranten eingesetzt wurden. Wie viele Verfahren sind es da?

Eine größere Zahl von Anzeigen liegt noch bei den Polizeidienststellen. Wir wissen bisher nur, dass es in der Summe über 300 Anzeigen wegen des Polizeieinsatzes sind. Die meisten stammen übrigens von Personen, die gar nicht selbst im Schlossgarten waren. Diese Anzeigen gehen vor allem auf Filme und Bilder aus dem Internet zurück. Hinzu kommen weitere Ermittlungsverfahren gegen Personen, die an dem Protest beteiligt waren, zum Beispiel wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte.

Wer wurde angezeigt?

Das geht vom einzelnen Polizeibeamten über den Einsatzleiter, also den Stuttgarter Polizeipräsidenten, bis zum Ministerpräsidenten. Eine andere, kleinere Zahl von Anzeigen richtet sich gegen Demonstranten.

Wie gehen Sie mit diesen Anzeigen um?

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat zunächst ein Verfahren zur Überprüfung des gesamten Polizeieinsatzes am 30. September eingeleitet. Zur Klärung der Sachverhalte wurde eine eigene Ermittlungsgruppe aufgestellt. Wir müssen prüfen, ob dieser Einsatz rechtmäßig und die Wahl seiner Mittel laut Polizeigesetz verhältnismäßig war. Vorläufig kann ich sagen, dass es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Einsatz insgesamt offensichtlich unrechtmäßig war. Auf einer zweiten Ebene klären wir, ob sich einzelne Beamte falsch verhalten haben.

Gibt es Hinweise darauf?

Es liegen nicht nur diverse Anzeigen von Bürgern vor. Es gibt auch Polizeibeamte, die selbst im Park waren und später Hinweise gegeben haben, wonach man versucht haben soll, Demonstranten mit dem Wasserwerfer aus den Bäumen zu vertreiben. Dieser Verdacht wurde bereits ausgeräumt.

Ermitteln Sie gegen einzelne Beamte?

Wir prüfen zunächst den Gesamteinsatz als solchen. Dann geht es auch um die Einsatzmittel wie Wasserwerfer, Pfefferspray und Schlagstock. In einem Teilbereich, nämlich dem Wasserwerfereinsatz, haben wir schon einzelne Beamte angehört und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Allerdings gibt es da noch keine Beschuldigten.

Die Überprüfung des Einsatzes - ist das ein Misstrauensvotum gegenüber der Polizei?

Nein. Die Staatsanwaltschaft überprüft schon von Amtes wegen, also ohne Anzeige, alle Fälle polizeilicher Gewaltanwendung unter dem Gesichtspunkt möglicher Körperverletzung im Amt - denn die polizeiliche Zwangsanwendung hat häufig Schmerzen oder Verletzungen zur Folge. Wenn Beamte also den sogenannten unmittelbaren Zwang und seine Hilfsmittel anwenden - wie Wasserwerfer, Pfefferspray, Schlagstock -, wird unsere Behörde aktiv. Beim 30. September spricht unter anderem die hohe Zahl der Verletzten und die Schwere einzelner Verletzungen dafür, den Einsatz genau unter die Lupe zu nehmen. Einen vergleichbaren Fall hat es bei uns in den letzten 30 Jahren nicht gegeben. Das ist schon eine besondere Situation.

"Sitzblockaden nicht grundsätzlich verboten"

Wie gehen Sie bei der Überprüfung des Einsatzes vor?

Wir werten objektive Beweismittel aus, hauptsächlich sind das Bild- und Filmaufnahmen, sowie die Einsatzberichte. Großen Wert legen wir auf die Mitschnitte der polizeilichen Kommunikation über Funk, weil sich daraus die Entwicklung der Lage, die Entscheidungen der Einsatzleitung und die Tätigkeiten einzelner Einheiten nachvollziehen lassen. Diese Sachverhalte und ihre Dynamik werden wir bis ins Letzte aufklären.

Viele Demonstranten haben nach dem 30.September die "Brutalität" der Polizei beklagt, während sie selbst "zutiefst friedlich" gewesen seien. Wie passt das zusammen?

Ich habe etliche Stuttgart-21-Demonstrationen aus der Nähe beobachtet und würde sagen, dass dies vor allem eine Frage der Interpretation ist: Eine Menge ist vielleicht nicht gewalttätig, aber das macht sie nicht automatisch friedlich. Die verbale Aggressionen etwa, die bei nahezu allen S-21-Demonstrationen den Polizisten entgegengeschleudert werden, sind nicht gewalttätig, aber sie sind erheblich unfriedlich. Das gilt auch für die "Lügenpack"-Sprechchöre und dergleichen.

Ein Teil der Demonstranten behauptet, dass Sie ein Recht darauf hätten, "ihren Park" vor Stuttgart 21 zu schützen.

Das von vielen demonstrierenden Bürgern in Anspruch genommene "Widerstandsrecht" gibt es so im rechtlichen Sinne gar nicht. Das Grundgesetz kennt ein Widerstandsrecht nur, wenn die verfassungsmäßige Ordnung bedroht ist - aber sicher nicht im Zusammenhang mit einem Konflikt um einen Bahnhof. Auch das häufig in Anspruch genommene Recht auf "gewaltfreien Widerstand" gibt es als ein Rechtfertigungsmittel für Straftaten, etwa für gewaltsame Sitzblockaden, nicht.

Es gibt Gruppierungen, die bei ihren populären Aktionen ständig auf besagtes Widerstandsrecht aufmerksam machen...

Ich meine, dass sich diese Gruppierungen und ihre Wortführer schon fragen lassen müssen, ob sie nicht Demonstranten an einen Punkt führen, an dem Straftaten begangen werden. Das haben wir den Organisatoren diverser Großdemos auch ausdrücklich gesagt. Ich rede nicht von strafrechtlicher, aber von ethischer Verantwortung, die ein Veranstalter den Menschen gegenüber hat, die er zur Demo aufruft. Wenn etwas passiert, muss schließlich jeder Demonstrant für sich die Konsequenzen tragen. Da hilft es nicht, sich aufs große Ganze zu berufen.

Spielen die Motive des Protests gar keine Rolle?

Sie spielen schon eine Rolle, zum Beispiel bei der Frage der Rechtswidrigkeit einer Blockade - und immer bei der Strafzumessung im Falle der Verurteilung: Wer zum Thema Weltfrieden oder Kernkraft demonstriert, darf womöglich andere Demonstrationsmittel anwenden als jemand, der einen neuen Bahnhof nicht will oder will. Das entscheidet letztlich das Gericht.

Bei den großen S-21-Demos werden häufig im Anschluss an die offizielle Kundgebung Straßen und Kreuzungen blockiert. Dürfen die Demonstranten das?

Sitzblockaden sind bei Demonstrationen nicht grundsätzlich verboten und nicht von vornherein eine Nötigung. Aber solche Sitzblockaden, die in keinerlei räumlichem, sachlichem oder zeitlichem Zusammenhang zur Demonstration stehen, sind unserer Meinung nach nicht zulässig. Die Kundgebung am Hauptbahnhof rechtfertigt also nicht die spätere Sitzblockade am Charlottenplatz. Das ist in unseren Augen eine strafbare Nötigung. Dasselbe gilt für Sitzblockaden, die nicht der Kommunikation des Anliegens dienen, sondern nur Zwang ausüben oder die Rechte Dritter beschränken.

Warum werden solche Rechtsverstöße nicht verfolgt?

Weil es in der Regel schlicht zu viele Menschen sind. Zum einen ist es schwer, die Rädelsführer zu identifizieren und festzunehmen. Zum anderen konnte man die Blockaden bislang nicht mehr mit verhältnismäßigen Mitteln auflösen. Diese Blockaden sind für Staatsanwaltschaft und die Polizei, aber auch für sehr viele Bürger ein echtes Ärgernis. In einem Fall haben Demonstranten einen Löschzug der Feuerwehr auf einer Einsatzfahrt mit Blaulicht und Martinshorn blockiert. Das stößt bei mir auf völliges Unverständnis.

Wie lange dauert es, bis Sie die zentralen strafrechtlichen Fragen zum 30. September beantworten können?

Das lässt sich im Moment wirklich nicht zuverlässig sagen. Wir müssen komplexe Sachverhalte objektiv feststellen und bewerten. Das Ergebnis muss richtig sein und jeder Nachprüfung standhalten. Singuläre Ereignisse wie den Wasserwerfereinsatz oder vereinzelte Schlagstockeinsätze werden vorrangig bearbeitet; sie können in absehbarer Zeit aufgeklärt werden.