Hany Azer Foto: Kraufmann

Im Exklusivinterview spricht Projektleiter Azer über Gründe seines Rückzugs und eigene Fehler.

Stuttgart - Sein Rückzug als S-21-Chefplaner sorgt für Aufsehen. Nun äußert sich Hany Azer erstmals im Interview zu den Gründen. Der 61-Jährige widerspricht Annahmen, er sei wegen Mehrkosten oder Risiken zurückgetreten. Das Milliardenprojekt liege finanziell im Rahmen, betont er.

Herr Azer, Sie geben zum 31. Mai die Gesamtprojektleitung für Stuttgart21 und die ICE-Strecke Wendlingen-Ulm auf. Weshalb?

Es gibt persönliche Gründe, es gibt berufliche Gründe und es gibt Gründe, die mit der angespannten Atmosphäre in der Bürgerschaft beim Stichwort Stuttgart21 zusammenhängen. Trotzdem ist es mir nicht leicht gefallen, die Projektleitung abzugeben; das können Sie mir glauben. Es geht ja nicht nur um mich - es geht auch um mein Team mit 100 hochmotivierten Ingenieuren, Kaufleuten, Sachbearbeitern, und, und. Ich hinterlasse ein gut bestelltes Haus.

Wann haben Sie das Signal auf Rückzug gestellt?

Ich habe seit einigen Monaten immer wieder mit dem Gedanken gespielt. Den konkreten Entschluss zum konsequenten Schlussstrich habe ich vor zwei Wochen getroffen.

Hat man versucht, Sie umzustimmen?

Vorstandschef Rüdiger Grube, sein Kollege Volker Kefer, andere Vorstände, Projektsprecher Wolfgang Dietrich - ja, es haben einige versucht. Ich habe auch etliche Anrufe erhalten, etwa von Hartmut Mehdorn. Dieses ehrliche Bemühen hat mir gut getan.

Die Deutsche Bahn hat mitgeteilt, dass einer der Gründe für den Rückzug die ständigen Anfeindungen und Drohungen gegen Ihre Person waren. Können Sie das konkretisieren?

Das Thema wird etwas zu hoch geschaukelt. Es gab zwar solche unschönen Dinge gegen mich und das Team, doch wir dürfen uns davon nicht gefangen nehmen lassen. Es gibt in der wunderschönen Stadt Stuttgart so viele freundliche, zugewandte und kluge Menschen. Wir sollten gemeinsam nach vorne schauen, in die Zukunft.

Sie empfinden keinen Groll?

Nein. In meiner Branche sagt man: Die Eisenbahn hat keinen Rückspiegel. Ich bin ein versöhnlicher Mensch; das entspricht meiner Persönlichkeit und auch meinem christlichen Glauben.

Kritiker argwöhnen, Ihr Rückzug hätte mit verborgenen Kostensteigerungen und weiteren Risiken bei Stuttgart21 zu tun, die Sie nicht länger mittragen wollten. Stimmt das?

Das trifft nicht zu. Das ist eine komplett falsche Vermutung. Jeder, der mich kennt, weiß: Der Azer wirft nicht das Handtuch.

"Mit mir hat Kretschmann nicht gesprochen"

Ministerpräsident Winfried Kretschmann nimmt auch an, dass Sie wegen Kostensteigerungen zurückgetreten sind ...

Mit mir hat der Regierungschef nicht über Kosten gesprochen. Ich weiß nicht, wie Herr Kretschmann zu dieser Annahme kommt.

Ich frage Sie auch: Sind Sie wegen der Kosten zurückgetreten?

Definitiv nein.

Lässt sich der von Bahn und Land genannte Deckel für die Baukosten von maximal 4,5 Milliarden Euro einhalten?

Nach heutigem Sach- und Kenntnisstand kann ich als Gesamtprojektleiter sagen: Stuttgart 21 lässt sich für 4,5 Milliarden Euro realisieren.

Vorstand Kefer hat unserer Zeitung bestätigt, dass bei S21 bisher 50 Millionen Euro Mehrkosten aufgelaufen sind. Außerdem wurden im März Unterlagen der Bahn in der Presse veröffentlicht, in denen Sie Kosten und Risiken von über einer Milliarde Euro auflisten. Sind die Zahlen echt?

Ja, diese Zahlen sind echt. Die Aufstellung stammt von mir, wenngleich mir nicht klar ist, durch welche Indiskretion sie an die Presse gelangten. Solche Aktionen muss jeder mit seinem Gewissen und mit seiner Arbeitsethik ausmachen. Ich könnte das nicht. Ich möchte aber betonen, dass ich zum Inhalt der Unterlagen stehe. Es ist doch völlig normal, dass ein verantwortlicher Projektleiter die Kosten im Blick behält. Wir erfassen kontinuierlich den Arbeitsstand, den Kostenstand, die Summe der möglichen Risiken und schreiben sie fort.

Um die 4,5 Milliarden einzuhalten, müssen Sie bald Bauaufträge für den Tiefbahnhof und Tunnelstrecken im Volumen von 1,6 Milliarden Euro vergeben. Trifft das zu?

Zu derartigen Details äußere ich mich aufgrund des laufenden Wettbewerbs nicht. Fest steht: Ich muss nicht wegen der Kosten vergeben. Vielmehr sollen Aufträge vergeben werden, um weiter zu bauen. Weiterbauen spart beides, Zeit und Geld.

Sie hätten den Auftrag für den Tiefbahnhof bereits im Februar 2011 vergeben können.

Das trifft zu. Alles in allem haben auf der Baustelle durch äußere Einflüsse bisher etwa ein halbes Jahr verloren. Die Bindefrist für die genannten Angebote laufen freilich länger. Wir müssen uns bis spätestens Juni oder Juli entscheiden, ob wir die Aufträge für den Tiefbahnhof und die Tunnel vergeben oder nicht.

Lässt sich die Zeitverzögerung von einem halben Jahr noch aufholen?

Ja, das kann man kompensieren.

Haben Sie zuletzt an einem Plan B gearbeitet, für den Fall, dass S21 scheitert?

Nein. Das war und ist für mich kein Thema.

"Ich werde weiter für die Bahn arbeiten"

Sie sprachen zu Beginn des Gesprächs von der angespannten Atmosphäre in Stuttgart. Haben Sie selbst einmal versucht, die Lage zu entschärfen?

Die Frage ist für mich nicht leicht zu beantworten, weil mich das Thema innerlich immer noch stark aufwühlt. Ich gebe zu, dass ich mich von manchen Menschen nicht gerecht behandelt fühle, dass es mir an Wertschätzung für meine Arbeit an Stuttgart21 und für mein Team mangelt. Andererseits stelle mir selbst die Frage, ob ich nicht manches falsch gemacht oder versäumt habe. Ich möchte einen gleichen Fehler schließlich nicht zweimal machen. Im Nachhinein denke ich, ich hätte meine Stärken im Umgang mit der Öffentlichkeit auch in Stuttgart intensiver einbringen müssen.

In Berlin beim Bau des Hauptbahnhofs waren Sie eine hochgeschätzte Persönlichkeit.

Wir haben in Berlin nicht nur flotte Sprüche geklopft, sondern auch noch einen guten Job beim Bau gemacht. Ich frage mich deshalb schon, weshalb ich dort als guter Kommunikator galt - und warum derselben Person in Stuttgart eben diese Fähigkeit abgesprochen wird. In Berlin komme ich als Mensch Hany Azer an, in Stuttgart anscheinend nicht. Kann sich ein Mensch in kürzester Zeit so verändern?

Was folgt für Sie daraus?

Die Historie von Stuttgart21, die jahrelangen Verzögerungen und Unsicherheiten, der politische Streit und die öffentlichen Debatten und Proteste - das alles hat in Stuttgart wohl gänzlich andere Rahmenbedingen geformt als in Berlin. Das habe ich offenbar nicht richtig eingeschätzt.

Haben Sie S-21-Proteste mit 20.000, 30.000 und mehr Demonstranten irritiert?

Es hat mich gewundert. Wenn ich Berlin und Stuttgart vergleiche, dann hatten wir in Berlin den Vorteil, dass wir relativ bald Baugruben vorweisen konnten, Bauwerke, Tunnel, und so weiter. Wir konnten in Berlin also früh eine begeisternde Bau-Kommunikation betrieben. Das ist einfacher als eine langwierige, ausschließliche Kommunikation mit Broschüren und Plänen. Unsere Baustelle in Berlin wurde zur Schaustelle, wir hatten Besucher aus der ganzen Welt da. In Stuttgart hingegen ist im Laufe der Zeit in Teilen der Bevölkerung eine negative Stimmung gegen S21 entstanden. Ich hätte vielleicht mehr Energie investieren sollen, die Glaubwürdigkeit des Projekts wieder zu stärken. Ich habe mich vielleicht zu sehr auf die Realisierung des Projekts fokussiert.

Als Sie am 1.April 2008 kamen, war S 21 größtenteils fertig geplant, oder?

Das trifft nicht zu. Ich habe 2008 keine vertiefte Planung vorgefunden. In den Jahren zuvor ist sicher landauf, landab sehr viel über das Projekt diskutiert und informiert worden - aber die konkrete Umsetzung? Da gab es viele weiße Flecken auf der Karte. Ich musste zum Beispiel zunächst eine junge Mannschaft aufbauen, Verantwortung und Aufgaben verteilen und mich selbst parallel tief ins Projekt einarbeiten. Damals standen 5000 Leitz-Ordner mit Unterlagen vor mir.

Sie haben jeden gelesen?

Ich habe jeden in der Hand gehabt.

Glauben Sie noch an Stuttgart21?

Sicher. Stuttgart21 mit der Neubaustrecke ist ein wichtiges Projekt für die Stadt, das Land und Deutschland. Ein Hochtechnologieland, eine Exportnation, braucht nicht nur eine moderne Verkehrsinfrastruktur, sondern auch herausragende Großprojekte, die Leistungsfähigkeit demonstrieren.

Wie sieht Ihre berufliche Zukunft aus?

Ich werde weiterhin für die Deutsche Bahn arbeiten, zunächst in Berlin.

Sie gehen nicht zum 17-Milliarden-Euro-Projekt in Katar, wo die Bahn eine Metro und 180 Kilometer Schnellfahrstrecke baut?

Nein. Den Azer schickt man nicht in die Wüste.