„Santa Claus Is Coming to Town“: Der Weihnachtsmann liebt Kinder, und Kinder lieben ihn – und seine Geschenke. Foto: dpa

Kinder sollten möglichst früh die bittere Wahrheit über den Weihnachtsmann erfahren. All die Lügen über Santa Claus würden den Nachwuchs traumatisieren und das Vertrauensverhältnis zu den Eltern belasten, warnen Psychologen in einer Studie.

Stuttgart - Mit fünf, sechs Jahren dämmert es den meisten Kindern, dass der freundliche rundliche Typ mit dem angeklebten Bart, der einmal im Jahr zuhause oder in der Kita auftaucht und Geschenke, lobende oder auch mahnende Worte spricht, vielleicht doch nicht der echte Weihnachtsmann ist. Sollten Eltern deshalb besser auf die Geschichten rund um diesen und andere kindliche Helden des Weihnachtsfestes verzichten? Eine Frage, die Väter und Mütter von kleinen Kindern in der Vorweihnachtszeit umtreibt wie kaum ein andere.

Santa Claus – „A wonderfull lie“

Der Psychologe Christopher Boyle, Professor an der englischen Universität von Exeter, und seine Kollegin Kathy McKay, klinische Psychologin an der australischen University of New England, sind diesbezüglich rigeros. Sie plädieren für ein Lügen-Verbot. Ihre These: Wenn Eltern erst gar nicht erst mit den Santa-Claus-Fantastereien anfangen, sei die Enttäuschung über den Schwindel bei den Kindern später nicht so groß. Ihre Studie „A Wonderfull Lie“ (Eine wundervolle Lüge) haben sie jetzt in der renommierten Fachzeitschrift „The Lancet Psychiatry“ online veröffentlicht.

Die beiden angelsächsischen Experten warnen: „Belügt eure Kinder nicht länger!“ Die Lügen-Geschichten über Santa Claus, den Nikolaus und Weihnachtsmann würden sie traumatisieren und für ihr ganzes Leben zeichnen. Das Vertrauen der Kinder in ihre Eltern würde durch die Weihnachts-Schwindeleien untergraben. „Wenn Eltern eine Lüge so überzeugend und über so einen langen Zeitraum aufrechterhalten, in welchen Situationen lügen sie dann noch?“ Die Moral, mit der Kinder an solche Mythen glauben, müsse in Frage gestellt werden.

Die Wahrheit vor den Latz knallen?

Es gehe nicht darum, so Christopher Boyle und Kathy McKay in ihrem Artikel, „Santa Claus einfach loszuwerden“. Vielmehr müssten Eltern verstehen, wofür sie eigentlich Santa Claus bräuchten und warum es für sie so wichtig sei ihre Kinder anzulügen. Natürlich könne man Kindern die Wahrheit nicht immer einfach vor den Latz knallen. „Wenn ein Erwachsener ein Kind tröstet, dessen Haustier vor kurzem gestorben ist, erzählt er, dass es im Tierhimmel und nicht in den Kohlenstoffzyklus wiedereingetreten ist.“

Santa Claus? Humbug!

Die Idee eines Geschenke verteilenden Mannes, der das Verhalten von Kindern auf der ganzen Welt bewertet, hält Kathy McKay mit Ebenezer Scrooge, dem miesepetrigen Helden aus Charles Dickens „A Christmas Carol“ („Eine Weihnachtsgeschichte“) für „Humbug“.

Nicht die Sorge um ihre Kinder würde Eltern motivieren zu lügen, sondern der selbstsüchtige Wunsch, die eigene Kindheit und deren Magie für einen kurzen Moment wiederaufleben zu lassen. Christopher Boyle und Kathy McKay raten Erziehenden zu mehr Ehrlichkeit, auch wenn die Kinder noch klein sind und das wunderbare Weihnachtsfest dadurch entzaubert wird. „Wenn ihr Kind in ein Alter kommt, in dem es anfängt zu fragen, sagen sie ihm die Wahrheit in einer Weise, die ihre Beziehung zu ihrem Kind stärkt.“

Gepfefferte Reaktionen

In den USA, Großbritannien und Australien schlagen die Wogen über die Entzauberung Santa Claus’ hoch. „Das ist Müll, wir haben alle die Weihnachtsgeschichte überlebt. Wie wir auch immer die Wahrheit herausgefunden haben“, kommentiert eine Leserin auf www.abc.net.au. Ein anderer meint: „Ich glaube nicht, dass ich irgendwelche psychologischen Schäden von meinen Eltern erlitten habe, die versuchten, ein bisschen Magie am Leben zu erhalten.“

Ihren Spitznamen „Christmas Grinch“ haben sich Christopher Boyle und Kathy McKay jedenfalls redlich verdient. „Grinch tries to ruin Christmas“ – „Miespeter versucht Weihnachten zu ruinieren“, titelt „Yahoo News“.

Der Geist der Weihnacht

Von guten Mächten wunderbar geborgen

Mit ihrer Meinung steht das Psychologen-Gespann ziemlich alleine da. Die Psychologin und Buchautorin Felicitas Heyne etwa ist völlig anderer Meinung: „Der Glaube an den Weihnachtsmann gehört zu unserer Kultur einfach dazu. Weihnachtsmann, Nikolaus und Christkind vermitteln auf kindgerechte Weise bestimmte Wahrheiten, moralische Werte, Leitlinien.“

Sie sind – um in den Worten des von den Nationalsozialisten ermordeten evangelischen Theologen Dietrich Bonehoeffer (1906-1945) zu sprechen – gute Mächte, die alle Kinder treu und still umgeben, behüten und trösten wunderbar.

Warum Kinder an den Weihnachtsmann glauben

Warum glauben Kinder überhaupt an den Weihnachtsmann? In der magischen Phase zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr kann für sie alles real werden, was sie sich in ihrer Fantasie ausmalen. Schönes wie Schreckliches, Feen und Hexen, Drachentöter und Monster, Engel und Gespenster, Helden und Räuber.

Da Kinder diese Dinge noch nicht verstandesmäßig erklären können, werden sie mit magischer Logik durchleuchtet. Die Unterscheidung von Fiktion und Realität verschwimmt. Die Wolken regnen, weil sie weinen. Das Stofftier liegt unter dem Bett, weil es müde ist. Die Puppe kann sprechen, aber nur das Kind kann sie verstehen. Das Wasser in der Badewanne fließt nicht in den Abwasserkanal, sondern in ein verzaubertes Kannönigreich.

Früher oder später wird jedes Kind skeptisch und das erzählte hinterfragen. Es entwickelt nach und nach die Fähigkeit, sich in die Gedanken anderer hineinzuversetzen. Dadurch sind Kinder in der Lage, die Gefühle, Wahrnehmungen und Gedanken anderer einzuordnen und deren Verhaltensweisen einzuschätzen. Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung sozialer Kompetenz. Psychologen nennen diesen Prozess „Theory of Mind“ (Theorie des Geistes).

Altersgerechte Erzählungen

Die Geschichten über den Weihnachtsmann und das Christkind müssen allerdings altersgerecht sein und entsprechend erzählt werden, betont der katholische Pastoraltheologe Michael Schüßler von der Universität Tübingen. „Es gibt ein Alter, in dem Kinder wahnsinnig gerne solche Geschichten hören. Ihnen dann mit Aufklärung zu kommen, verkennt das, was Kinder in diesem Alter wirklich brauchen. Allerdings muss das, was man – auch religiös – über die Welt weiß und was erzählt wird, mitwachsen.“

Wann die Zeit für ein klärendes Gespräch gekommen ist, müssten Eltern selbst herausfinden, so Schüßler. „Kindern werden die Geschichten, mit denen sie aufgewachsen sind, irgendwann fremd. Das heißt aber nicht, dass man Kindern solche Geschichten nicht erzählen sollte. Allerdings müssen sich die Erzählformen dem Alter der Kinder anpassen.“

„Man muss um und nicht gegen die Mythen kämpfen“

Der Denkfehler von „Christmas Grinch“ Christopher Boyle und Kathy McKay besteht darin, dass sie Märchen und Mythen zu stark misstrauen und Kindern zu wenig zutrauen. „Man muss um und nicht gegen die Mythen kämpfen“, meint Michael Schüßler. „Vor allem muss man nach Wegen suchen, sie richtig zu erzählen. Mythen, die das Leben zerstören, es klein und eng machen, sind gefährlich. Das gilt für Kinder genauso wie für Erwachsene.“