Rund 30 Prozent aller Kinder machen in einem Fünf-Jahres-Zeitraum Armutserfahrungen. Foto: dpa

Eine Studie der Bertelsmann-Stifung beleuchtet Armut über fünf Jahre hinweg. Fast jedes dritte Kind ist betroffen – und auch aus einer „gesicherten Lage“ rutschen Familien zeitweise ab.

Stuttgart - Der baden-württembergische Sozialminister Manne Lucha (Grüne) hat es nach der Veröffentlichung einer neuen Armutsstudie der Bertelsmann-Stiftung als „große Herausforderung“ bezeichnet, allen Kindern unabhängig von ihrer sozialen Herkunft die gleichen Chancen im Leben zu sichern. „Seit ich mein Amt als Minister angetreten habe, ist es mein Ziel, den Kreislauf der Vererbung von Armut zu durchbrechen. Kein Kind kann sich selbst aus der Armut befreien“, sagte Lucha unserer Zeitung. So führt das Land einige Projekte für die „Teilhabe von benachteiligten Kindern und Jugendlichen“ durch und hat sogenannte „Präventionsnetzwerke“ gegen Kinderarmut in Singen und Pforzheim geknüpft.

Die am Montag vorgestellte Studie hat die Einkommenslage von fast 3200 Kindern in einem Zeitraum von fünf Jahren beleuchtet. Die Untersuchung hebt sich damit von anderen Berichten ab, die Kinderarmut nur an einem Stichtag erfasst. Die Ergebnisse der Studie sind alarmierend: Fast ein Drittel der Kinder machen in diesem Zeitraum Armutserfahrungen. 21 Prozent aller Kinder befinden sich mindestens fünf Jahre „dauerhaft oder wiederkehrend“ in einer Armutslage, für weitere zehn Prozent ist es ein kurzzeitiges Phänomen. Das heißt, ihre Familien rutschen zeitweise in eine Lage der Einkommensknappheit ab, die die Versorgung mit wichtigen Grundgütern, Zugang zu Bildung, Hobbies und Urlaub erschweren.

Die große Mehrheit der Kinder in Deutschland lebt noch auf der Sonnenseite: Fast 69 Prozent der Kinder befinden sich in einer „abgesicherten Lage“, als ohne jemals zu erfahren, was Armut bedeutet. Aber fast jedes zehnte Kind lebt mit den seinen Eltern in einer sogenannten Zwischenlage – aus der er es zeitweise in die Armut absteigen kann.

Wer 60 Prozent unterm Durchschnittseinkommen hat, der gilt als arm

Wie andere Forscher auch bezeichnen die Autoren der Studie Familien als „arm“, wenn sie mit weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens auskommen müssen oder staatliche Grundsicherung (Hartz IV) beziehen. Drei Gruppen sind besonders betroffen: Kindern von Alleinerziehenden, Kinder mit zwei oder mehr Geschwistern und Kinder mit geringqualifizierten Eltern.

Zwar ist in Deutschland die Grundversorgung gesichert – auch „Arme“ haben ein Dach über dem Kopf und zu essen. „Arm zu sein heißt hier, auf vieles verzichten zu müssen, was für Gleichaltrige normal zum Aufwachsen dazugehört“, heißt es in der Studie. Vor allem schließe es von sozialen und kulturellen Aktivitäten aus. Die Studie zählt 23 Güter auf, die sie darauf abklopft, inwieweit Familien sie sich leisten können.

Auf der Liste sind eine Wohnung, die so viele Zimmer hat, wie Personen darin wohnen; gerade dies ist für Heranwachsende, die einen eigenen Rückzugsraum brauchen, ein wichtiger Aspekt. Des weiteren aufgeführt sind Waschmaschine, Fernseher, Auto, ein internetfähiger Computer, ein Garten oder Balkon, die Möglichkeit, im Monat einen festen Betrag sparen zu können und pünktlich die Ölrechnung zahlen zu können. Auch gesellschaftliche Aspekte, etwa ein monatlicher Kinobesuch oder Freunde zum Essen nach Hause einladen zu können, wurden berücksichtigt. Auch wird ein „mindestens einwöchiger Urlaub“ im Jahr aufgeführt.

Verlangt wird eine komplette Reform der Sozialpolitik

Das Ergebnis: Durchschnittlich fehlen Kindern in einer dauerhaften Armutslage 7,3 dieser 23 Güter, Kindern, die kurzzeitig von Armut betroffen sind, fehlen 3,4 Güter. Dagegen müssen Kinder aus Familien mit sicherem Einkommen im Schnitt nur auf 1,3 Güter verzichten. Der Verzicht hat langfristige Folgen: Wer schon als Kind arm sei und nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen könne, der habe auch in der Schule schlechtere Chancen, sagt Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. Das mindere die Chance, „später ein selbstbestimmtes Leben ohne Armut zu führen“.

Die Stiftung fordert eine radikale Reform der Sozialpolitik: Man benötige ein neues Instrumentarium, um den Bedarf von Kindern zu ermitteln und müsse dabei die Betroffenen einbeziehen – etwa durch Kinderkonferenzen oder Befragungen. Auch müsse es eine neue steuerfinanzierte Leistung für Kinder geben, ein Teilhabegeld. Schließlich brauchten Familien ein „unbürokratisches Unterstützungssystem“: eine wohnortnahe Anlaufstelle, in der sie beraten werden.