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Immer mehr Firmen ziehen sich aus den Kosten der Energiewende zurück – zu Lasten der Haushalte.

Heidelberg/Berlin - Anfang Juni 2011 herrscht auf der Berliner Politik-Bühne Hochbetrieb. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima sind acht deutsche Atommeiler vom Netz. Die im Herbst 2010 beschlossene Laufzeitenverlängerung für Kernkraftwerke ist vom Tisch und damit auch der Fahrplan für die Energiepolitik für die kommenden Jahre. Tausende Seiten Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen müssen neu gefasst werden.

Heidelberg/Berlin - Anfang Juni 2011 herrscht auf der Berliner Politik-Bühne Hochbetrieb. Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima sind acht deutsche Atommeiler vom Netz. Die im Herbst 2010 beschlossene Laufzeitenverlängerung für Kernkraftwerke ist vom Tisch und damit auch der Fahrplan für die Energiepolitik für die kommenden Jahre. Tausende Seiten Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen müssen neu gefasst werden.

In dieser Situation treffen sich Vertreter der Wirtschaftsvereinigung Metalle im Bundeswirtschaftsministerium mit einem Abteilungsleiter des Hauses Rösler. Ihr Anliegen: die Stromkosten für die Metallbranche trotz der Energiewende im Rahmen zu halten. Dem Hörensagen nach wird es ein langes Treffen, das bis nach Mitternacht geht. An seinem Ende werden die Industrielobbyisten einen Coup landen. Man einigt sich darauf, im Energiepaket der Bundesregierung einen Passus zu verankern, der Firmen mit besonders hohem Stromverbrauch von den Gebühren für die Benutzung der deutschen Stromautobahnen befreit. Der Abschnitt steckt so tief unten im Gesetzesdickicht, dass ihn später kein Parlamentarier mehr richtig wahrnehmen wird. Dennoch: Paragraf 19 Absatz 2 der Stromnetzentgeltverordnung – kurz StromNev – ist 300 Millionen Euro schwer. So viel jedenfalls sparen die Firmen seither jährlich, weil sie auf Deutschlands Stromautobahnen gratis fahren dürfen. Geld, das die Haushalte seitdem über ihre Energierechnung zusätzlich zahlen müssen.

Die Befreiung von den Netzentgelten beim Strom, die von Lobbyisten klammheimlich in die StromNev eingeschmuggelt wurde, ist allerdings nur eine von mehreren, zum Teil Milliarden schweren Bonbons, die Industrievertreter in den vergangenen Jahren ihrer jeweiligen Klientel erstritten haben.

Tatsächlich sind seit der Liberalisierung der Energiemärkte im Jahr 1998 bei nahezu jeder einschlägigen Gesetzesänderung im Stromsektor neue Entlastungstatbestände aufgenommen worden. Die Folge: Für Teile der deutschen Industrie gilt beim Thema Strompreise quasi Brutto gleich Netto.

Manche Unternehmen zahlen keine Stromsteuer oder sind von Konzessionsabgaben und Netzentgelten befreit. Andere sind von den Umlagen zum Bau neuer Speichertechnik und Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen ausgenommen oder beteiligen sich nicht an der EEG-Umlage zum Ausbau erneuerbarer Energien – Kosten, die Otto Normalverbraucher über seine Stromrechnung begleichen muss und die dort mit rund 60 Prozent des Gesamtbetrags zu Buche schlagen.

Nach einer aktuellen Studie, die das Berliner Beratungsunternehmen Arepo Consult im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellt hat, summierten sich die Stromsubventionen für das produzierende Gewerbe allein im Jahr 2011 auf mehr als 6,8 Milliarden Euro. Tendenz steigend. Andere Öko-vergünstigungen wie die kostenlose Zuteilung von CO2-Zertifikaten einbezogen, summierte sich der Betrag auf gut 8,2 Milliarden Euro. Eine ähnliche Studie der Umweltorganisation Greenpeace kommt zu ähnlichen Ergebnissen.

Der dickste Rabatt kommt für die Unternehmen über Stromsteuernachlässe herein. Aktuell sind rund 97 000 deutsche Unternehmen, darunter auch ein stattlicher Anteil landwirtschaftlicher Betriebe, von der umgangssprachlich Ökosteuer genannten Abgabe befreit oder zahlen sie nur teilweise. 3,4 Milliarden Euro gingen dem Fiskus so allein im vergangenen Jahr flöten. Auch hier wurde die Zahl der Begünstigten seit Einführung 1999 durch Gesetzesneufassungen sukzessive erweitert. Im Subventionsbericht der Bundesregierung stellt dieser Block mittlerweile einen der größten Einzelposten dar.

Fast 100.000 Firmen erhalten Öko-Rabatte

Einen wahren Dammbruch erfuhr der Ablasshandel zugunsten der Industrie aber im vergangenen Jahr. Nicht nur wurde es einer Vielzahl von Unternehmen ermöglicht, sich aus der Finanzierung des derzeit anstehenden Neubaus der deutschen Stromnetze zurückzuziehen, auch wurde ein weiteres Schlupfloch für all jene geschaffen, die kein Interesse verspüren, für neue Windanlagen und Solarparks in Deutschland zu zahlen.

Diese werden über die im Strompreis enthaltene EEG-Umlage finanziert. Sie beträgt derzeit 3,59 Cent je Kilowattstunde. Privathaushalte zahlen sie voll. Ausnahmen für die Industrie gibt es indes schon fast seit einem Jahrzehnt. Großverbraucher wie Alu-Hütten oder Chemiewerke können sich etwa seit 2003 umfassend von der Umlage befreien lassen. Auch Bahnbetreiber zahlen seit Jahren fast nichts für den Ausbau von Sonne und Wind. Galt der Rabatt bisher aber nur für die Champions League der deutschen Energieverbraucher – in Summe sind das knapp 600 Großfirmen –, so kann sich ab Januar auch das Durchschnittsunternehmen von nebenan von dem Öko-Obolus befreien lassen.

„Für die Industrie ist die noch umfassendere Befreiung von der EEG-Umlage ein echter Hammer“, sagt Peter Reese, Leiter Energiewirtschaft beim Energiedienstleister Verivox. „Im positiven Sinne.“ Gingen erste Schätzungen des Bundesumweltministeriums noch von einer Verdreifachung der Rabatt-Empfänger im Jahr 2012 aus, so ist selbst diese sprunghafte Zunahme nach Recherchen unserer Zeitung wahrscheinlich noch zu tief gegriffen.

Anträge auf Befreiung von EEG-Umlage explodieren

Das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle – kurz Bafa – erstickt förmlich in Anträgen. Genaue Zahlen gibt es nicht. Auf Anfrage ließ das Amt aber mitteilen, aufgrund der „vielen in Papierform eingereichten Anträge“ sei eine „statistische Erhebung“ erst Ende Juli möglich. Nachdem in den Vorjahren eine „eher kleine dreistellige Anzahl“ von Anträgen eingegangen sei, seien es dieses Jahr „viel, viel mehr“, mitunter „mehrere Tausend“. An diesem Montag endet um 24 Uhr für alle deutschen Unternehmen die Frist zur Einreichung der Unterlagen. Wer bis dahin einreicht, kann sich rückwirkend für das ganze Jahr 2012 von dem Öko-Obolus im Strompreis befreien lassen. Man erwarte, dass die Zahl der Schriftsätze im Lauf des Montags noch einmal deutlich zunehme, heißt es vom Bafa.

Für Fachmann Reese ist die Goldgräberstimmung in den Unternehmen kein Wunder. Weil sich jetzt auch Betriebe mit deutlich geringerem Energieverbrauch als früher von dem Öko-Obolus befreien lassen können, steige die Zahl der Empfänger massiv, sagt er. „Das greift jetzt bis in den Mittelstand durch“, sagt er. Auch die Arepo-Analystin Sarah Rieseberg geht davon aus, dass sich der Kreis der Abgabenbegünstigten stark vergrößern wird. „Das reicht jetzt von kleinen metallverarbeitenden Unternehmen bis zum Sägewerk“, sagt Rieseberg.

Welche Kosten für die Allgemeinheit die Stromrabatte nach sich ziehen werden, ist derzeit schwer abzuschätzen. Die Schätzungen reichen von einigen Hundert Millionen bis zu Milliarden-Beträgen pro Jahr. Der Bund der Energieverbraucher (BdE) hat errechnet, dass allein die Mehrbelastung eines Durchschnittshaushalts durch die Rabatte bei der EEG-Umlage mit 30 Euro pro Jahr zu Buche schlage. Ein Wert, der sich durch die jetzt eingeräumten Zusatzschlupflöcher markant erhöhen könnte.