Ein 4000 Quadratmeter großes Kraftwerk entsteht zurzeit auf dem Parkhaus des Großmarkts – über einer Gemüsehalle kommen weitere Module zur Stromerzeugung hinzu. Foto: Michele Danze

Die neuen Stadtwerke Stuttgart sind schwer in Verzug. Ursprünglich wollten sie im September erstmals Strom verkaufen. Jetzt wird es Mitte Januar. Dann haben viele Haushalte, die momentan den Wechsel des Anbieters planen, sich wohl längst entschieden.

Stuttgart - Viele Stromanbieter kündigten in den letzten Wochen Preiserhöhungen an. Manche Kunden wird das zwar kalt lassen, weil ihnen die Materie zu kompliziert ist und sie niemals wechseln. Die anderen aber, die die drohende Kostenlawine für Strom und Erdgas abmildern wollen, sind drauf und dran, sich an neue Lieferanten zu binden – wenn es nicht schon geschehen ist. So gesehen, sagt Michael Fuchs vom Verein Kommunale Stadtwerke, eine Initiative sachkundiger Bürger, hätten die Stadtwerke eine große Chance verpasst: „Mehr Rückenwind für den Vertriebsstart ist nicht denkbar.“

Darauf hätten sich die Stadtwerke vorbereiten und Mitte November an die Öffentlichkeit gehen müssen. Wenn der Vertrieb erst Mitte Januar beginne, hätten sich viele Kunden schon wieder gebunden. Ein Großteil sei für mindestens ein Jahr für die Stadtwerke verloren, da eine einjährige Laufzeit auf dem Stromsektor weit verbreitet sei.

Chancen zu verpassen, kann sich die jüngste Tochter der Stadt, die für den Vertrieb ein gemeinsames Unternehmen mit den Elektrizitätswerken Schönau (EWS) gebildet hat, kaum leisten. Ihre Ziele sind ehrgeizig. Schon vor einem Jahr peilte sie an, dass es 2020 rein rechnerisch genug Strom aus erneuerbaren Energien für alle Privathaushalte in Stuttgart gibt. Bis Ende 2013 wollen die Stadtwerke selbst 30.000 Haushalte versorgen, knapp zehn Prozent aller Stuttgarter Haushalte, sagt Jörg Klopfer, Sprecher der Stadtwerke.

Verlässlicher und „erlebbarer“ Akteur mit erweitertem Service

Darunter könnten auch die rund 10 000 Kunden sein, die zurzeit in Stuttgart Strom von den EWS beziehen. Sie können, wenn sie wollen, aber auch EWS-Kunden bleiben. Der eigenständige EWS-Tarif und der Tarif des gemeinsamen Unternehmens werde einheitlich sein, hat EWS-Pionier Sladek nach Kenntnis des Vereins Kommunale Stadtwerke längst angekündigt. Klopfer will dazu noch nichts sagen. Der Tarif soll aber, das ist bekannt, günstiger sein als der Grundtarif des Hauptkonkurrenten Energie Baden-Württemberg (EnBW).

Die Stadtwerke möchten nicht nur virtueller Partner im Internet sein, sondern verlässlicher und „erlebbarer“ Akteur mit erweitertem Service – auch mit einem Kundenzentrum für Information und Beratung. Diese Geschäftsstelle nennt Klopfer als einen Grund dafür, warum man für den Vertriebsstart weder den zunächst angepeilten September einhalten konnte, noch den neuen Termin 1. Dezember. Ein ausgegucktes Domizil habe sich als zu klein erwiesen. Jetzt zieht man in ein städtisches Gebäude unter dem Tagblattturm. Möglichst schnell würden die Stadtwerke dort gern mit einer Pressekonferenz in die Offensive gehen, aber die Handwerker sind noch nicht fertig.

Im der Stadtwerke herrscht höchste Spannung ob der Ungewissheit, wie schnell die neue Marke auf dem Strommarkt Fuß fasst und ob die Stuttgarter sich mit den Stadtwerken identifizieren werden wie einst mit den Technischen Werken und den Neckarwerken Stuttgart, die die Landeshauptstadt dann an die EnBW abstieß. Da wird es schon als Lichtblick gehandelt, dass noch im Dezember eine weitere Fotovoltaik-Anlage der Stadtwerke zur Stromerzeugung fertig werden soll: auf zwei Dächern des Großmarkts in Wangen. Die Anlage mit einer Leistung von 802 Kilowatt soll den Strombedarf von etwa 250 Haushalten decken können. Die Investitionskosten belaufen sich auf rund eine Million Euro. „Das ist ein Leuchtturmprojekt für uns“, sagt Projektmanager Jochen Link.

Anspruch, reinen Ökostrom und null Atomstrom zu vertreiben, keine Besonderheit mehr

Kritische Geister in der Stadtverwaltung sind besorgt. Der Internetauftritt sei bisher kläglich, das Profil der Marke ungenügend. Das Logo und das Konzept für die Kommunikation hätten die Stadtwerke von Studenten erarbeiten lassen. Der Anspruch, reinen Ökostrom und null Atomstrom zu vertreiben, sei keine Besonderheit mehr.

Der von den EWS in die Stadtwerke eingespeiste Strom hat zwar das Zertifikat besonderer Umweltfreundlichkeit, aber das ist nur schwer zu vermitteln. Beim Thema Nähe zum Lieferanten und Erzeuger, warnt Michael Fuchs, kann aber auch die EnBW ganz gut mithalten: Sie verkaufe reinrassigen Ökostrom aus der Wasserkraftnutzung in Rheinfelden. Das lässt sich auch als Alternative vermarkten zu dem Ökostrom, den die EWS aus Norwegen beziehe. Mehr noch: Die EnBW kann darauf verweisen, dass sie ab 2013 sogar die Ämter und Einrichtungen der Stadt Stuttgart mit Ökostrom versorgt. Mindestens drei Jahre, vielleicht auch noch zwei weitere Jahre. Sie hatte sich bei einer europaweiten Ausschreibung durchgesetzt. Die Stadtwerke waren da noch nicht startklar.

Auch sonst hat die EnBW Felder besetzt, auf denen die Stadtwerke sich tummeln will. Mit einer Anzeigenkampagne präsentierte sie sich als Unternehmen für Stuttgart – was auch an dem harten Kampf liegt, den sich die EnBW zurzeit mit den Stadtwerken um die Konzessionen für die Netzbetriebe bei Strom, Gas, Wasser und Fernwärme liefert. Und am Streit mit der Stadt über den Wert des Wassernetzes, das die Stadt zurück haben will. Die EnBW setzt außerdem auf Bürgerbeteiligung in Genossenschaftsform, was sich auch die Stadtwerke vorgenommen haben. Mancherorts geht die EnBW mit Sondertarifen in die Offensive. Auch beim Kundenservice glaubt sich die EnBW Vertriebs-GmbH gut gerüstet: Als Grundversorger beliefere man in Stuttgart deutlich mehr als 50 Prozent der Stromabnehmer. Ihnen biete man nicht nur den Grundtarif, sondern auch andere Tarife. Die Erfahrung zeige, dass vielen Kunden der Umstieg auf einen anderen EnBW-Tarif ausreiche, dass sie kaum zu anderen Anbietern wechseln. Bürgermeister Föll glaubt trotz alledem: „Die Stadtwerke werden eine Erfolgsgeschichte.“