Sind manche Teilnehmer beim CSD in Stuttgart zu nackt? Foto: Christian Hass

Zu viel Kommerz, zu viel nackte Haut und zu wenige ernsthafte Botschaften? Bei der CSD-Parade am Samstag in Stuttgart wacht eine Jury darüber, dass der „politische Charakter“ des Zugs eingehalten wird.

Stuttgart - Sie treten für eine offene Gesellschaft ein, und etliche machen sich dabei frei. Sobald bei der Parade zum Christopher Street Day nackte Haut präsentiert wird, klickt’s bei kleinen Handys wie großen Kameras.

Lack, Leder, Gummibrüste, giftgrüne Perücken, Fellstulpen, Männertutus, Tangas in Regenbogenfarben – provokante Outfits fehlen nicht, wenn jeden Sommer Tausende für Toleranz und Akzeptanz schrill und laut durch Stuttgart ziehen.

„Lottofee“ Fleischhauer kritisiert „sexuelle Freizügigkeit“

Nicht allen Schwulen gefällt das. Chris Fleischhauer , die erste männliche „Lottofee“, ist ein strikter Gegner von zur Schau gestellter „sexueller Freizügigkeit“, wie er es nennt. Am Samstag wird der Chef eines Mode-Startups auf einer Tribüne beim Gerber sitzen, um sich mit fünf weiteren Mitgliedern einer Jury alle 90 CSD-Formationen ganz genau anzuschauen. Verstöße gegen den „politischen Charakter“ des Zuges sollen dokumentiert werden. Wer sich nicht an die Richtlinien hält, muss damit rechnen, im nächsten Jahr keine Starterlaubnis zu erhalten.

„Es handelt sich um eine Polit-Parade“, sagt Fleischhauer, „also um eine Demonstration, die als solche bei der Stadt angemeldet ist.“ Wäre der CSD ein Faschingsumzug, müssten die Veranstalter für Kosten wie etwa der Straßenreinigung selbst aufkommen – so wie das die Karnevalsvereine auch tun. Bei zu viel nackter Haut, kündigt der 35-Jährige an, werde er Minuspunkte geben.

Erlaubt zum Werfen sind Bonbons und Kondome

Travestiekünstlerin Frl. Wommy Wonder, die ebenfalls in der Jury sitzt, ist skeptisch, ob Strenge durchsetzbar ist: „Der CSD ist für manche politisch, für manche Spaß, für manche eine Mischung aus beidem. Da wird es schwer sein, die Leute reglementieren zu wollen.“

Reglementiert ist bereits einiges. Als „Streuartikel“ zum Werfen sind nur Bonbons, Kondome und Flyer erlaubt. Verboten hingegen sind Federn, Glitter, Schaum sowie zu viel Werbung auf dem Wagen. Nur der Firmennamen, aber keine Demo-Forderungen darf es nicht geben. Die Jury wird die Gruppe prämieren, die das Motto „Perspektivwechsel“ am besten umsetzt, und wird Verstöße gegen die politischen Vorgaben an den CSD-Verein melden.

Nackte Haut als „Zeichen für Lebensfreude“?

Werden Spaßbremsen beim Gerber Zensuren verteilen? Solche Stimmen werden nun laut. Die Ehe für alle sei erreicht und die Rehabilitation von einst wegen ihrer Homosexualität verurteilten Menschen auch, ist zu hören, das seien doch gleich zwei Gründe für eine riesengroße Party. „Politisch ist jetzt kaum noch was zu fordern“, meint einer. Eine weitere Stimme lautet: „In den letzten Jahren ist der CSD immer kommerzieller geworden, und man hatte das Gefühl, jeder will dabei sein und was vom Geschäft abbekommen.“ Nackte Haut, wird argumentiert, sei ein „Zeichen für Lebensfreude“. Gegen Lebensfreude, sagt Fleischhauer, habe er nichts. Bei der Polit-Parade aber gehe es „um eine brauchbare Botschaft an die Politik und an die Bevölkerung“.

Die Botschaften, versichert CSD-Sprecher Christoph Michl, sind in diesem Jahr in Stuttgart so kräftig wie nie zuvor. „Nur zwei von 90 Formationen sind reine Partywagen“, sagt er. Der hiesige Zug ist inzwischen deutlich länger und größer als der in Berlin, wo am vergangenen Samstag „nur“ 60 Gruppen zu sehen waren.

Beim Berliner CSD standen auf den Plakaten Forderungen wie „ Next Stop Istanbul Pride“, „Next Stop Beirut Pride“, „Next Stop Moskau Pride“. Wenn in Deutschland die Gleichberechtigung vorangeschritten ist, müsse man sich verstärkt um andere Länder kümmern.

Auf vielen Schulhöfen ist „schwul“ weiterhin ein Schimpfwort. Das ist nicht vorbei, nur weil es die Ehe für alle gibt.

Die Debatte um nackte Haut beim CSD zeigt: Schwul ist nicht gleich schwul. Das Bedürfnis bei vielen ist groß, ganz normal und unauffällig zu leben – ohne im Männertutu auf dem Truck zu tanzen.