Ein Bild aus der vergangenen Woche: Flugbegleiter der Lufthansa streiken Foto: dpa

Metaller, Lokführer, Piloten, Erzieher, Briefträger und zuletzt wieder mal die Flugbegleiter – in diesem Jahr streiken offenbar besonders viele Berufsgruppen. Das ist einerseits Zufall. Andererseits hat sich die Streikkultur in Deutschland verändert.

Kassel - Ist 2015 in Deutschland mehr gestreikt worden als in den Jahren zuvor?
„Auf jeden Fall“, sagt Streikforscher Jörg Nowak von der Universität Kassel, „wir haben 2015 deutlich mehr Streiks gehabt als in den vergangenen Jahren.“ Der Grund: In diesem Jahr gab es in mehreren wichtigen Branchen (öffentlicher Dienst, Metall- und Elektroindustrie) Tarifverhandlungen mit massiven Warnstreiks. Hinzu kamen zuvor schon schwelende Arbeitskämpfe bei der Deutschen Bahn und der Lufthansa sowie den Abwehrstreik der Postangestellten und die Sondertarifrunde für Erzieher. Die Mehrzahl der Streiks wirkte sich unmittelbar auf den Alltag der Menschen aus: Züge fuhren nicht, die Post kam nicht an, und Flüge wurden gestrichen. Das verstärkte den Eindruck, es sei so viel gestreikt worden wie noch nie, noch einmal.
Wie lange wurde durchschnittlich die Arbeit niedergelegt?
Die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat für dieses Jahr noch keine Zahlen über die Ausstände erhoben. Ein Sprecher wollte auch keine Prognose wagen. Im vergangenen Jahr haben die Streikenden laut BA-Statistik durchschnittlich 2,7 Tage die Arbeit ausgesetzt – so lange wie seit 1993 (4,5 Tage) nicht mehr. Und es ist davon auszugehen, dass diese Zahl im Jahr 2015 durch die langen Streiks der Lokführer, der Postler, der Erzieher und der Flugbegleiter noch einmal übertroffen wird. Es sei ein ähnliches Niveau wie Anfang der 90er Jahre, prognostiziert Streikforscher Nowak. Allerdings gibt es einen großen Unterschied: Früher gab es den Zahlen der Arbeitsagentur zufolge deutlich mehr Ausstände im produzierenden Gewerbe. Im Lauf der Zeit hat sich das meiste Streikgeschehen in Deutschland in den Dienstleistungssektor verlagert.
Was sind die Ursachen für die Streiks?
Die Hauptursache für viele Arbeitsniederlegungen sei die Privatisierung, sagt Streikforscher Nowak. Die führe zu einem sehr starken Wettbewerb unter den Anbietern, zum Beispiel im Verkehrssektor. Hier sind von den Tarifkonflikten vor allem die Deutsche Bahn und die Lufthansa betroffen, die einst in staatlicher Hand waren. Für Arbeitnehmer bedeuteten Privatisierungen nicht selten, dass die Arbeitsbedingungen schlechter würden und die Arbeitsbelastung steigen würde, sagt Nowak. Hinzu kommt, dass manche Arbeitgeber bestehende Regelungen für ihre Beschäftigte abschaffen oder Teile der Belegschaft in Billiggesellschaften ausgliedern wollen, um Personalkosten zu senken. Die Gewerkschaften versuchen, dem entgegenzuwirken. Es kommt zu sogenannten Abwehrstreiks – wie bei den Postlern oder den Fluglotsen der Lufthansa. Bei solchen Verhandlungen sei es schwieriger, einen Kompromiss zu finden, als bei Lohnrunden, sagt der Experte für Tarifpolitik am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW), Hagen Lesch.
Wie hat sich die Streikkultur entwickelt?
Die Streiks in Deutschland seien kleinteiliger geworden, sagt Lesch. Das bedeutet: Massenstreiks gibt es immer seltener. An einem einzelnen Arbeitskampf beteiligen sich weniger Beschäftigte, dafür hat die Dauer der Ausstände zugenommen. Streiks sind ein Mittel für Arbeitnehmer, um ihre Forderungen zu unterstreichen und Druck auf die Arbeitgeber auszuüben. Streikforscher Nowak hat in den vergangenen Jahren eine „größere Entschlossenheit bei den Streikenden“ beobachtet. Dass im Kita-Tarifkonflikt etwa die Gewerkschaftsmitglieder gegen den Schlichterspruch gestimmt haben, habe er als „außergewöhnlich“ empfunden: „Früher wäre da die Luft raus gewesen, und sie hätten den Kompromiss akzeptiert.“
Wie steht es um die gesellschaftliche Akzeptanz der Streiks in Deutschland?
Die Bereitschaft und Akzeptanz für Streiks in der deutschen Gesellschaft seien in den vergangenen Jahren immer größer geworden: „Vor 25 Jahren wurde es noch als Frechheit angesehen, wenn gestreikt wurde. Inzwischen ist es ganz normal“, sagt Nowak. Das habe er auch beim Tarifkonflikt zwischen der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) und der Bahn gemerkt. Obwohl viele Medien eher kundenorientiert berichteten und die GDL „erheblich denunzierten“, habe die knappe Mehrheit der Bevölkerung Verständnis für den Streik gehabt, sagt Nowak. Diese Solidarität könne er sich eigentlich nur dadurch erklären, „dass die Menschen selbst ähnliche Dinge erfahren in ihrem Arbeitsalltag – dass sie zum Beispiel unbezahlte Überstunden machen müssen“.
Ist davon auszugehen, dass in Zukunft noch häufiger und länger gestreikt wird?
Die Experten gehen stark davon aus. Es hänge zwar davon ab, wie erfolgreich die vergangenen Streiks gewesen seien, sagt Streikforscher Nowak. Aber grundsätzlich gelte: „Je mehr privatisiert wird, desto mehr Streiks kann es geben.“ Hinzu kommt, dass Gewerkschaften künftig immer häufiger versuchen könnten, für einzelne Berufsgruppen Sonderreglungen auszuhandeln – wie zuletzt bei den Erziehern.
Wie steht Streik-Deutschland im europäischen Vergleich da?
In den meisten anderen europäischen Ländern wird mehr gestreikt als in Deutschland. Auf einem ähnlich niedrigen Niveau bewegen sich nach Angaben des Instituts der deutschen Wirtschaft nur die Schweiz, die Slowakei, Polen und Schweden. Der Grund dafür sei der sozialpartnerschaftliche Ausgleich gewesen, sagt Nowak. Doch der bricht seiner Meinung nach allmählich auf: „Auf der einen Seite sind die Arbeitgeber kompromissloser, auf der anderen könnte man auch sagen: Deutschland passt sich nur dem europäischen Streikstandard an.“ Im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, Italien oder Griechenland gibt es hierzulande immerhin keine politisch motivierten Massenstreiks. Für den Arbeitsbeziehungsexperten Lesch ist die Entwicklung dennoch bedenklich. „Steigen Ausfalltage und Konflikthäufigkeit in Deutschland weiter an, droht ein wichtiger Standortvorteil verloren zu gehen.“