Touristen genießen den Sonnenschein am Spreeufer Foto: dpa

Feierbiester aus aller Welt und Alt-Anwohner, Investoren und Mieter, Start-ups: Alles passiert gleichzeitig nebeneinander und gegeneinander. So ist das neue Berlin.

Berlin - Er ist wieder da. Auferstanden aus Ruinen sozusagen, ausgebuddelt, exhumiert, nach 24 Jahren in der Vergessenheit des Köpenicker Forstes. Wladimir Iljitsch Lenin. Man wird nicht sagen können, dass er seinen Frieden gefunden hat im Berliner Boden. Einst stand er stolz und 19 Meter hoch auf seinem eigenen Platz – dem Leninplatz in Friedrichshain. In einer anderen Zeit mit anderen Göttern. Heute heißt sein alter Standort „Platz der Vereinten Nationen“.

Es war immer so knapp, so haarscharf mit diesem Lenin. Wenige Tage vor dem 100. Geburtstag des „echten“ Lenin war das Denkmal des russischen Bildhauers Nikolai Tomski fertig geworden. Auf der Denkmalliste landete es einen Tag vor der Wiedervereinigung. Das sollte den Führer der Arbeiterklasse vor dem Zorn des Kapitalismus schützen. Aber was kümmert den Zeitgeist eine Liste? 1991 schickte der damalige Stadtentwicklungssenator Volker Hassemer (CDU) die Abrissfirma zum Massaker. In 111 Einzelteile wurde Lenin zerstückelt und verbuddelt. Ein Teil war der 3,9 Tonnen schwere Granitkopf – 1,70 Meter hoch. Der historische Lenin war von Kopf bis Fuß fünf Zentimeter kleiner. Nun kommt er für eine Ausstellung in die Spandauer Zitadelle.

Auf seiner Schwertransporterfahrt nach Spandau, dicke Gurte um die Augen, als sollte ihm der Anblick moderner Werktätiger erspart bleiben, kam der Leninkopf Mitte September auch in Friedrichshain vorbei. Und niemanden wunderte es. In dieser Stadt vergeht die Zeit nicht gleichförmig, sie wirft Wellen. Zeitinseln tauchen auf, umspült von zukunftsvoller Modernität. Friedrichshain gibt es als Bezirk nicht mehr. Die Verwaltungsreform hat ihn mit Kreuzberg zusammengekegelt – ausgerechnet mit dem damals letzten Reservat für Hippies, Aussteiger, Bundeswehrverweigerer, Träumer, Trödler und tragisch Gescheiterte. Sie alle sind heute vereint – in ihrem Ärger, ihrem Stolz. Das liegt so dicht zusammen in dieser Stadt der Reibung und der Widersprüche. Und nirgendwo lässt sich das so gut besichtigen wie hier – im heißen, unruhigen Herzen der Hauptstadt.

13,8 Millionen Übernachtungen zählte Berlins Tourismusbranche im ersten Halbjahr

Es brodelt in den Kreuzberger und Friedrichshainer Kiezen. Etwas kippt gerade. Man muss es nur sehen wollen. Das will nicht jeder. Die Tourismuswirtschaft frohlockt. Die Branche boomt wie nie. Im ersten Halbjahr 2015 kamen 5,8 Millionen Gäste in die Hotels und Pensionen. 13,8 Millionen Übernachtungen. Ein Plus von fast fünf Prozent zum Rekord-Vorjahr. 30 Prozent mehr Chinesen haben 2015 Berlin entdeckt, 45 Prozent Südkoreaner. In Israel ist Berlin angesagt wie nie. Hinter London und Paris rangiert es auf Platz drei der europäischen Städtereisen – vor Rom oder Barcelona. 200 000 Jobs hängen in der Hauptstadt vom Tourismus ab.

Das kann man gut finden. Tatsächlich gehen die Berliner insgesamt gelassen mit dem Thema um. 88 Prozent der Berliner sagen: Die Gäste sind willkommen. Damit kann man sich beruhigen – und damit nicht erkennen, was gerade passiert. In Friedrichshain-Kreuzberg liegt die Zustimmung nur knapp über 65 Prozent. Vielen Bürgern stinkt es. Buchstäblich. Von Kreuzberg bis Friedrichshain zieht sich eine Partymeile durch die Stadt. An Wochenenden ist die U-Bahn-Linie 1 ab 18 Uhr vollgepfropft mit biertrinkenden, aufgeputschten jungen Leuten aus der ganzen Welt. Nicht wenige junge Feierbiester wollen Geld sparen und übernachten, zumal im Sommer, gerne im Freien.

Zoff gibt es regelmäßig an den Hostels, den Billighostels für junge Leute. Genervte Anwohner zählen auf: Vollgekotzte Hauseingange, Spielplätze, über denen am Sonntagmorgen eine Urinwolke steht, zerbrochene Bierflaschen, alkoholisierte Jugendliche urinieren aus dem Fenster. Eine Nachbarin, die aus einem Hostel mit einer Wasserbombe beworfen wurde, bekam vom Betreiber noch ein nettes Schreiben: „Da wir unseren Betrieb nicht vom Ort fortbewegen können und wir vor Ihnen da waren, können Sie nur weichen durch Fortzug.“

Der Görlitzer Park ist neuerdings drogenfreie Zone

Nur Randphänomene? Die üblichen Scharmützel zwischen Fremden und Einheimischen? Wer wirklich wissen will, wie explosiv die Stimmung ist, muss zum RAW-Gelände. Das Kürzel steht für „Reichsbahnausbesserungswerk“. Hier stehen die berühmten Clubs. Der „Suicide Cirkus“, das „Cassiopeia“, der „RAW-Tempel“ – Sehnsuchtsorte von Billigflieger-Insassen aus ganz Europa. 10 000 Partygänger, meist um die 20, kommen pro Wochenende. Es gibt Club-Touren, zehn Bars für zwölf Euro, freies Saufen inklusive. Die Straßen rundherum sind mit fliegenden Ständen voll, da gibt es Bier zum Vorglühen und aus dunklen Ecken wispert es: „Shit, Speed, Koks …“ Allein im ersten Halbjahr musste die Polizei hier 234 Großeinsätze fahren. Organisierte Banden, oft arabische Familienclans, machen Jagd auf die Brieftaschen der Touris. Manche sind um vier Uhr morgens so breit, dass selbst ein dressierter Affe sie bis aufs Hemd ausrauben könnte.

Viele Dealer sind einfach umgezogen. Der Görlitzer Park ist nämlich neuerdings drogenfreie Zone. Ergebnis: Bis Ende Juli gab es 1158 Anzeigen wegen Verstoßes gegen das Drogenverbot. Die grüne Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann, zieht daraus einen seltsamen Schluss. Sie will in ihrem Bezirk Cannabis legalisieren und Coffee-Shops einrichten. Jeder Erwachsene dürfte dann 30 Gramm im Monat kaufen. Der Antrag beim Bundesinstitut für Arzneimittel ist schon gestellt. Stadtmagazine haben meistens einen feinen Sinn für Trends in ihrer Stadt. Im digitalen Stadtmagazin „Mit Vergnügen“ stand neulich zu lesen: „Die Berliner Nacht hat ihre Freiheit verloren.“

So ist das im modernen Kreuzberg. Aber nicht nur. Das ist ja eben das besondere an dieser Stadt, wo alles gleichzeitig, nebeneinander, gegeneinander passiert. Das eine so real wie das andere. Am Landwehr-Kanal sonnen sich die Touristen. Ein paar Schritte weiter liegen die Erdmann-Höfe, ein Zentrum der Berliner Start-up-Szene. „Nirgendwo auf der Welt gibt es so viel E-Commerce-Kompetenz wie in Berlin“, sagt Florian Meissner, Gründer der Berliner Foto-Sharing-App. Berlin ist dabei, bei den Start-ups London zu überholen. Eine McKinsey-Studie rechnet vor, dass „bis 2020 in Berlin über 100 000 neue Arbeitsplätze durch Start-ups entstehen können“. Berlin zähle „zu den obersten fünf Prozent der Regionen Europas beim Zuzug neuer Unternehmen“.

40 000 Unternehmensneugründungen gibt es jedes Jahr in der Hauptstadt

Aber nicht nur das internet-getriebene Gewerbe boomt. Seit einem Jahrzehnt gibt es in der Hauptstadt jedes Jahr 40 000 Unternehmensneugründungen. Eine Perle ist der Technologiepark in Adlershof. Hier hat die Humboldt-Uni ihre naturwissenschaftlichen Fakultäten. Auf dem und um den Campus arbeiten inzwischen 16 000 Menschen in rund 1000 Unternehmen. Über drei Dutzend sind Hochtechnologie-Schmieden. In rund fünf Dutzend Satelliten und in der europäischen Raumstation ISS fliegt Technik made in Adlershof um die Erde.

Berlin ist attraktiv für internationale Studenten und Fachkräfte. In Mitte auf der Straße Englisch, Indisch oder Japanisch zu hören ist genau so selbstverständlich wie Deutsch. Da der Wohnraum nicht dem Bedarf gemäß mitwächst, erwächst da ein Problem. Die eingesessenen Bewohner werden langsam aus der Mitte der Stadt verdrängt. Oft still. Neulich haben Rentner in Moabit rebelliert. 65 Wohnungen gibt es in ihrem Haus am Hansa-Ufer, die meisten mit älteren Menschen belegt. 2007 hatte das Bezirksamt Mitte das Haus an einen schwedischen Investor verkauft. In den Verträgen gab es keine Schutzklauseln für Altmieter. Nun steht eine Grundsanierung an – samt Mieterhöhung von 40 Prozent. Die Rentner gründeten eine Mieter-Initiative, pressewirksam kam auch Bundesjustizminister Heiko Maas. Nun gibt es einen Kompromiss. Spätere Sanierung, niedrigere Mietsprünge.

In der Regel läuft es anders. Die Armut nimmt zu. Jeder achte Haushalt ist überschuldet. Und wenn irgendwann die Flüchtlinge verteilt werden, wird der Druck weiter zunehmen. Noch gehen die Hauptstädter gelassen mit dem Thema um. In einer Spandauer Kaserne, weit außerhalb des Zentrums, leben in den Barracken und in einer davor errichteten Zeltstadt inzwischen rund 1500 Menschen in gedrängten Verhältnissen. Demnächst sollen auch Hallen auf dem Olympia-Gelände dazu kommen, wenn es ganz hart kommt, auch das Internationale Congress-Centrum.

Michael Müller ist ruhig und offen

Es ist viel Zündstoff in der Stadt. Unruhe. Reibung. Viel Aufbruch auch. Viel Begegnung, wie immer in dieser Stadt der Brüche. Das alles zu vermitteln und zu moderieren ist Aufgabe des neuen Bürgermeisters. Er ist das genaue Gegenteil des feierfrohen, lärmigen Klaus Wowereit. Michael Müller heißt er – und genauso tritt er auf: ruhig, ohne Effekte, aber mit einem Ohr für die einfachen Leute. Jedenfalls versteht er diesen Eindruck zu vermitteln. Er ist beliebt. Im Vergleich zum mutmaßlichen CDU-Spitzenkandidaten bei der Landtagswahl 2016, Innensenator Frank Henkel, liegt Müller in der Beliebtheit mit 58 zu 12 Prozent vorn. Die Berliner sind mit ihrem Regierenden zufrieden.

Die Hauptstädter wollen keine dominanten Typen mehr. Irgendwie bekommt das auch Wladimir Iljitsch Lenin zu spüren. Bei der Spandauer Ausstellung soll der Lenin-Kopf nicht stehen, sondern liegen. Die alten Helden sind müde. Kein Problem. Berlin schafft sich immer wieder neue.