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Sozialministerin Stolz fordert öffentliche Diskussion über die Leiden früherer Heimkinder.

Stuttgart - Brutale Foltermethoden, das Erbrochene wieder essen, dazu Kinderarbeit: So sah es früher in vielen Kinderheimen aus. Jetzt haben Betroffene im Landtag ihr Leid öffentlich gemacht. Sozialministerin Monika Stolz fordert Aufklärung.

Frau Stolz, lange Zeit haben sich Heimkinder nicht getraut, ihre Leiden aus den 50er und 60er Jahren öffentlich zu machen. Nun haben einige das Schweigen gebrochen. Was empfinden Sie, wenn Sie das hören?

Ich bin erschüttert, wenn man liest, wie Kinder gequält und zu Arbeitsdiensten missbraucht wurden. Ich frage mich, mit welcher Zielsetzung die Heimerziehung damals eigentlich betrieben wurde. Ich bin aber auch deshalb entsetzt, wenn man vor Augen hat, welche Anstrengungen heutzutage unternommen werden, wie man mit den Kindern in der stationären Unterbringung heute umgeht und welche guten pädagogischen Konzepte dahinterstehen. Da hat sich glücklicherweise sehr viel getan.

Warum hat es so lange gedauert, bis die Betroffenen gehört wurden?

Es ist doch oft so, dass man längere Zeit nicht in der Lage ist, über solche Erlebnisse zu reden. Wir kennen das ja auch vom Thema sexueller Missbrauch. Das Leid ist dann so groß, dass man nicht darüber reden kann - zumal wenn es obendrein in der Öffentlichkeit ein Tabu-Thema ist. Umso wichtiger ist es, dass jetzt die damaligen Missstände zur Sprache kommen.

Der Bann ist also gebrochen. Was kann das Land für die Betroffenen von damals tun?

Es ist wichtig, dass die Geschädigten zu Wort kommen. Ich sehe da vor allem die Träger der damaligen Einrichtungen in der Pflicht. Sie müssen die Gespräche mit den Betroffenen führen und ihnen die Möglichkeit geben, über ihre Kindheit zu reden. Nur so können die Vorgänge aufgearbeitet werden.

"Wir müssen über das Thema reden"

 Viele Betroffene von damals leben am Existenzminimum, weil sie keiner geregelten Arbeit nachgehen konnten und damit auch keine Rentenansprüche erworben haben. Kann das Land diesen Leuten helfen?

Ich möchte erst einmal abwarten, was in den Gesprächen mit den Trägern dieser Einrichtungen, also vor allem mit den Kirchen, aber auch beim Runden Tisch zu diesem Thema in Berlin herauskommt. Dabei muss ausgelotet werden, wie den Betroffenen Hilfe geleistet werden kann. Eine Entscheidung auf Bundesebene wurde noch nicht getroffen. Dem wollen wir nicht vorgreifen.

Inzwischen hat der Kommunalverband die Aufsicht über Kinder- und Jugendheime in Baden-Württemberg. Sind Missstände wie damals heute noch denkbar?

Das Verständnis für junge Menschen hat sich zum Glück gewandelt. Ziel ist es, die jungen Leute zu eigenständigen Persönlichkeiten zu entwickeln, die eine Perspektive haben und gemeinschaftsfähig sind. Da arbeiten viele zusammen, da gibt es enge Netzwerke zwischen Schulen, Heimen und Jugendhilfe. Hinzu kommt das große Bemühen, die Eltern nicht wie damals auszuschließen, sondern mit ihnen zusammenzuarbeiten. Die Angebote sind heute wesentlich differenzierter: Wir haben Heime, Pflegefamilien, Wohngruppen und andere Möglichkeiten, so dass wir dem einzelnen Kind besser gerecht werden können.

Der Petitionsausschuss des Landtags prüft derzeit eine Art Resolution, mit der zumindest das Leid der Menschen öffentlich anerkannt werden soll. Unterstützen Sie das?

Ich denke, wir müssen über das Thema reden und dürfen es nicht verschweigen. Schon deshalb und um zu zeigen, dass es heute solche Zustände nicht mehr geben darf, halte ich eine öffentliche Diskussion für sehr wichtig.