Um 1928 zu Besuch im Kurpark in Baden-Baden: Adolf und Babette Maier mit ihrer Tochter Hannelore Foto: Stadtarchiv Reutlingen

In Reutlingen ist lange gerungen worden, um das angemessene Gedenkkonzept für die Opfer des Nationalsozialismus. Nun werden vier Stolpersteine verlegt – in Erinnerung an die jüdische Familie Maier und ihre Verfolgung.

Reutlingen - Es ist ein schmucker Ziegelsteinbau, im Vorgarten blühen Krokusse, die Gegend ist ruhig. „Sie haben im ersten Stock gewohnt, es war ein gutbürgerliches Leben“, sagt Christl Ziegler und blickt an der Fassade hoch, „bis sie die Wohnung 1937 räumen mussten.“ Die ehrenamtliche Mitarbeiterin der Reutlinger Frauengeschichtswerkstatt geht ein paar Schritte, Bürgersteig entlang, bleibt vor dem Haus stehen. „Irgendwo hier kommen die Stolpersteine hin, es werden vier Stück.“

Schon seit Jahren setzen sich Christl Ziegler und ihre Mitstreiterinnen dafür ein, dass sich Reutlingen im Gedenken an die Opfer der NS-Verbrechen stärker engagiert. Immer wieder ist um die angemessene Form der Erinnerungskultur gerungen worden und dabei viel Zeit verstrichen. „Zu viel Zeit“, sagt Christl Ziegler und ist froh, dass das Zaudern und Zögern ein Ende hat. Ende April sollen vor dem Ziegelsteinbau in der Kaiserstraße 117 die ersten und vermutlich vorerst letzten Reutlinger Stolpersteine in den Gehweg eingelassen werden. Die zehn mal zehn Zentimeter großen Messingplatten, die der Kölner Künstler Gunter Demnig schon in halb Europa verlegt hat, tragen die Namen des jüdischen Ehepaares Adolf und Babette Maier sowie deren Kinder Gerhart und Hannelore.

Die Kinder wurden aufs Internat nach England geschickt

Der Vater, einst ein erfolgreicher Immobilienhändler, nahm sich im August 1937 das Leben, weil er in den wirtschaftlichen Ruin getrieben wurde. Die Mutter wurde in ein südfranzösisches Lager deportiert und 1942 in Auschwitz getötet. Die beiden Kinder konnten gerettet werden, weil sie rechtzeitig auf englische Internate geschickt wurden. Im September 1938 verließ der neunjährige Gerhart in Begleitung seiner sieben Jahre älteren Schwester Deutschland – die Repressalien hatten zugenommen, eine Verhaftung drohte.

Es sei nie zu spät für ein Zeichen des Gedenkens, „besser jetzt als nie“, sagt die in England lebende Kate Maier (51). Sie ist die Tochter von Gerhart und will bei der Verlegung der Stolpersteine dabei sein. „Ich finde es gut, dass das Projekt in aller Öffentlichkeit zu sehen ist“, sagt sie. „Einige Menschen werden achtlos über die Steine hinweglaufen, andere werden ins Nachdenken kommen.“ Für die Engländerin legt sich die Geschichte ihrer Familie wie ein Schatten auf ihr Leben. Anfangs sei ihrem Vater eingebläut worden, er solle seine deutsche Vergangenheit vergessen, er soll die liebevollen Briefe der Mutter, die bis zu ihrem Tod in Auschwitz Kontakt hielt, mental beiseite legen. „Da gab es noch keine Psychotherapie“, sagt Kate Maier, damals sei der übliche Ansatz Verdrängung gewesen.

Doch das Trauma der Eltern- und Großelterngeneration übt seine Wirkung auf die Nachfahren aus. Das hat Kate Maier immer wieder gespürt. „Ich bin ein Holocaust- Opfer in der zweiten Generation“, sagt die 51-Jährige. Die Last, die ihr Vater trug, habe ihre Entwicklung und die ihrer Kinder beeinflusst. Umso wichtiger sei es, die eigene Geschichte gut aufzuarbeiten und sie sich zu vergegenwärtigen. Im Fall der Maiers gibt es glücklicherweise eine ausführliche Dokumentation in Buchform, gründlich recherchiert hat das Schicksal der Verfolgten der Reutlinger Historiker Wilhelm Borth.

Kulturamtsleiter Werner Ströbele hat sich lange gegen Stolpersteine gewehrt

Lange Zeit hat sich der Reutlinger Kulturamtsleiter Werner Ströbele gegen Stolpersteine gewehrt – sie markieren den letzten frei gewählten Wohnort eines Opfers. Er hält das Konzept der kleinen Tafeln im Trottoir, auf denen herumgetreten wird, für angreifbar. Zumal selbst prominente jüdische Stimmen – allen voran Charlotte Knobloch, die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland – die Arbeit Demnigs kritisiert hatten. „Auf dem Boden sind die Opfer wieder schutzlos – wie einst“, kommentierte sie das Konzept. Würdiges Gedenken müsse auf Augenhöhe stattfinden. Nicht einfacher machte die Debatte die Entscheidung einer Reutlinger Sinti-Familien gegen Stolpersteine für ihre in einem Konzentrationslager ermordeten Angehörigen. An dem Haus, in dem die Familie bis zu ihrer Deportation nach Auschwitz lebte, wurde schließlich eine Tafel aufgehängt.

Der Beschluss des Reutlinger Gemeinderats aus dem Jahr 2015, Stolpersteinen zuzustimmen, hat Tatsachen geschaffen. „Es wird vorerst aber wohl keine weiteren Stolpersteine geben“, sagt der Kulturamtsleiter Ströbele, er kenne keine private Initiative, die sich darum kümmere. Grundsätzlich habe Reutlingen keinen Nachholbedarf, was die Aufarbeitung der NS-Zeit angeht, sagt Ströbele. Es gebe ein Gedenkbuch für die Opfer des NS-Regimes, das in der Marienkirche ausliege, sowie verschiedene Gedenkorte und -veranstaltungen.

Wenig erfreut über die Stolpersteine, die vor seiner Haustür in der Kaiserstraße verlegt werden, ist Johann Schenzle. „Da kann man nichts machen, wenn der Gemeinderat so entscheidet“, sagt der 81-Jährige, der im ersten Stock wohnt. Er öffnet bereitwillig seine Haustür für Besucher. Grundsätzlich aber hat er Sorge, dass Rechtsradikale Anstoß an den Tafeln nehmen und aufdringlich werden könnten. „Ich hoffe, dass die uns nicht belästigen.“