Im neuen „Tatort“ ermitteln die Kommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) dort, wo gewöhnlich der Verkehr rollt. Foto: SWR

Auch wenn Stuttgart im „Tatort“ nicht nur von seiner besten Seite gezeigt wird, bewährt sich die Strategie, aktuelle Themen aufzugreifen – wie bei dem Kammerspiel „Stau“.

Stuttgart - Würde man derzeit in der Republik fragen, was den Menschen aktuell zu Stuttgart einfällt, würden die meisten vermutlich als erstes den Feinstaub nennen. Der Verkehr in der Landeshauptstadt ist legendär, weshalb dem Drehbuchautor und Regisseur Dietrich Brüggemann für seinen ersten Stuttgarter „Tatort“ das in den Sinn kam, was für die Stuttgarter Alltag ist: Stau auf der Neuen Weinsteige. In „Stau“, der am Sonntag ins Fernsehen kommt, ist es allerdings nicht der übliche Feierabendverkehr, der den Autofahrern den Nerv raubt. Ein Wasserrohrbruch führt zum totalen Stillstand – und spielt den Ermittlern in die Hände: Irgendwo in dieser langen Autokolonne muss jemand sitzen, der ein junges Mädchen überfahren und sich dann aus dem Staub gemacht hat.

Als Dietrich Brüggemann vor ein paar Jahren in Stuttgart drehte, stand er einmal selbst geschlagene zwei Stunden auf der Neuen Weinsteige fest – und „Stau“ wird den Ruf der Stau-Stadt Stuttgart in den Köpfen noch verfestigen, was letztlich ins Konzept des Stuttgart-„Tatort“ passt. Seit 2008 ist das Ermittlerteam Thorsten Lannert und Sebastian Bootz unterwegs – und löste den langjährigen Kommissar Bienzle ab, gespielt von Dietz-Werner Steck. Mit den Schauspielern Felix Klare und Richy Müller haben zugleich neue, aktuellere Stoffe Einzug gehalten. Anstelle des regionalen und schwäbischen Kolorits der Bienzle-„Tatorte“ will man heute moderne Großstadtkrimis erzählen, die Stuttgart als eine umtriebige und urbane Landeshauptstadt zeigen, die allerdings auch ihre Abgründe und Sorgen hat.

Immer wieder werden Stuttgart-Themen aufgegriffen – wie S 21 oder RAF

In den bisher 19 Folgen des Stuttgarter „Tatorts“ ging es entsprechend mal um das Doppelleben eines Investmentbankers, mal um den Tod eines Umweltaktivisten. Bei „HAL“ im vergangenen Jahr verselbstständigte sich ein vollautomatisches Computersystem und lieferte eine beängstigende Zukunftsvision. Neben Themen, die auch andere Städte betreffen, widmet sich der Stuttgarter „Tatort“ aber immer wieder auch regionalen Themen und drehte sich zum Beispiel „Der Inder“ vor zwei Jahren um Stuttgart 21. Dabei ging es um Macht und Korruption im Immobiliensektor im Zusammenhang mit S 21 und um fanatische Gegner des Projekts.

Auch die nächste Ausgabe im Oktober greift einen Stoff auf, der eng mit Stuttgart und seiner Historie verbunden ist. „Der rote Schatten“ knüpft an den Deutschen Herbst an und erinnert an die Nacht zum 18. Oktober 1977, als sich Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, die Anführer der ersten RAF-Generation, in ihren Zellen in Stammheim umbrachten. In „Der rote Schatten“ stirbt eine Frau angeblich bei einem Unfall. Ihr Lebensgefährte war allerdings in den Siebzigerjahren für den Verfassungsschutz gegen die RAF eingesetzt. Deshalb beginnen die Kommissare mit der Ermittlung.

Bei „Der rote Schatten“ wird der Dominik Graf Regie führen. Selbst wenn bei manchem aktuellen oder authentischen Stoff Stuttgart nicht nur von seiner besten Seite gezeigt werden mag, so vermitteln gerade diese „Tatort“-Folgen, dass Stuttgart heute eine widersprüchliche und moderne Metropole ist wie andere Großstädte auch – und dass das schwäbische Kolorit der Bienzle-Ära endgültig überwunden ist.

Weder Action noch Verfolgungsjagden – in „Stau“ steht alles still

Vor allem entwickeln die Drehbuchautoren aus diesen Themen heraus immer wieder höchst sehenswerte Filme. In „Stau“ führt der Verkehrskollaps zu einem für einen Krimi höchst ungewöhnlichen Setting. Während zur klassischen Ermittlung in der Regel Bewegung, Ortswechse und Verfolgung gehören, ist diesmal eine Art Kammerspiel entstanden, das sich auf zwei Schauplätze konzentriert. Mit Unterstützung der Verkehrspolizei begibt sich Kommissar Lannert auf die Suche nach dem Täter, der Fahrerflucht begangen hat und prompt in diesen nächtlichen Stau hineingeraten ist. Lannert begegnet in dieser endlosen Autokolonne den verschiedensten Kauzen und Charakteren – Geschäftsfrau und Kiffer, gestresstem Vater und Mutter mit verzogener Tochter. Eine kunterbunte Mischung von Menschen, die auf ganz unterschiedliche Weise auf den elenden Stau reagieren.

Regionalbezüge gibt es bei „Stau“ auch im Detail. So werden die grölenden Kerle beim Junggesellenabschied vom Comedy-Trio „Eure Mütter“ gespielt. Viel Stoff für Konflikte liefert auch der Einsatz der Verkehrspolizei, die wenig Verständnis hat für die ständig neuen Ermittlungsstrategien der Kollegen von der Kripo, die letztlich doch wieder in Sackgassen führen, weil sich die heißen Spuren gleich mehrfach als Irrweg erweisen. Irgendwann verliert der Kommissar Stolle endgültig die Geduld und rastet aus – gespielt von Bernd Gnann, den Stuttgarter noch aus dem Schauspielensemble des Staatstheaters kennen.

Auch wenn „Stau“ die typische Action fehlt, ist ein interessanter, dichter Film herausgekommen, bei dem die wichtigsten Hinweise auf den Tathergang von einem Kleinkind kommen – eine Leistung, wie überzeugend der brabbelnde kleine Junge sich in die Handlung einfügt. Der Vollstau wurde keineswegs auf der Neuen Weinsteige gedreht, wo der Verkehr täglich steht, sondern in einer Messehalle in Freiburg, wo eine hundert Meter lange Mauer nachgebaut wurde. Zum Glück, so blieb der Stadt ein weiterer Stau erspart.

ARD, Sonntag, 20.15 Uhr