Britta Oettl hat Fussel im Hauptbahnhof aufgelesen und päppelt ihn jetzt auf. Foto: privat

Britta Oettl rettet Tauben in Stuttgart. Sie sagt: Der irrationale Hass auf diese Vögel verstelle den Blick der Menschen auf die Anmut und das reale Elend der Tiere in der Stadt.

S-Mitte/S-West - Die meisten Leute in der Stadt mögen Tauben höchstens, wenn sie von Picasso gemalt sind. Das echte Tier weckt selten ihre Sympathie. Für manche sind Tauben nachgerade abstoßende Dreckschleudern, die Bazillen ventilieren und die Stadt verkoten. Wer sie füttert, ist des Teufels. Für Britta Oettl sind all das moderne Mythen, wissenschaftlich widerlegter Nonsens, der ein diffuses Unbehagen bedient. „Die Tauben sind die Sündenböcke“, sagt Oettl. Eine irrationale Haltung verstelle den Blick der Menschen auf die Anmut der Tiere und auf ihr reales Elend in den Städten – das von Fussel zum Beispiel.

Qualvoller Hungertod

Es ist ein paar Wochen her. Er war keine Hand voll, irrte in der Bahnhofshalle auf dem Boden herum. Britta Oettl kam von der Arbeit, hat ihn gesehen, eingepackt und mit nach Hause genommen. Die studierte Umwelttechnikerin ist gerüstet für solche Notfälle, sie hat immer eine Tasche mit Erste-Hilfe-Set bei sich. „Damit fühle ich mich einfach sicherer.“ Im Winter gehört auch ein Wärmfläschchen dazu. Nicht nur medizinisch, auch argumentativ hat sich Oettl gut munitioniert. Es gibt kein Vorurteil gegen Tauben, das sie nicht fundiert zu kontern versteht: So bestätige das Bundesgesundheitsministerium, dass Tauben keine Krankheitsüberträger seien. „Der eigene Hund, die eigene Katze sind da viel gefährlicher“, sagt die Anwältin der Tauben. Taubenkot habe keine derart ätzende Wirkung, dass er Bausubstanz angreife, dazu gebe es Studien. Auch vermehrten sich die Vögel keineswegs stärker, wenn sie gefüttert würden. „Stadttauben haben einen vom Menschen angezüchteten Brutzwang. Unter Futtermangel brüten sie sogar noch mehr, um ihre Art zu erhalten“, erklärt Oettl. Das Fütterverbot mache also überhaupt keinen Sinn. „Es treibt die Tiere massenweise in den qualvollen Hungertod.“ Diesen Satz lässt Oettl erst mal sacken, bevor sie ihre Kaskade an Argumenten fortsetzt. Um die Population wirksam einzudämmen, müssten mehr Schläge eingerichtet werden, in denen die Eier gegen Gipseier ausgetauscht würden.

Die 30-Jährige ist Initiatorin zu einer Gruppe Tierschützer, die kranke und hilflose Tauben von der Straße pflückt und erstversorgt. Den zerzausten, untergewichtigen Fussel hat sie inzwischen aufgepäppelt und in ein Flexarium einquartiert, das im Wohnzimmer neben dem Fernseher steht. Fussel guckt ganz gerne mal fern. Der bedauernswerte Zausel habe sich dank gutem Futter zu einem „wunderschönen Vogel“ entwickelt. Tauben, sagt sie, seien sehr reinliche Tiere. „Sie verbringen viel Zeit mit der Gefiederpflege und baden gern.“

Recht oft greift sie zu der Schere in ihrem Ersten-Hilfe-Set, weil sich Tauben in allerlei Fäden, Drähten und Haaren verheddern und sich die Füße verschnüren. Manchmal muss sie ein Tier dann auch noch verbinden. Dass nicht jeder im Anblick eines hilflos herumtaumelden Tieres Mitleid empfindet, befremdet die junge Frau. „Ich begreife nicht, dass man dem Tier die Fähigkeit zu leiden abspricht.“

Ratten retten

Sie hat so schöne anrührende Geschichten erlebt mit all den Tauben, die sie schon daheim gepflegt hat. „Sie putzen sich, wenn man sie anspricht – ein Zeichen, dass sie sich wohlfühlen. Partner kraulen sich gegenseitig am Kopf. Tauben haben ein arges Partnerempfinden. Wenn einer von beiden verunglückt, bleibt der andere noch lange beim Toten sitzen.“

Dass sich Oettl ausgerechnet um Tauben und nicht etwa um Katzen oder Hunde kümmert, ist nur zum Teil Zufall. Die erste Taube, die sie aufpäppelte, war ihr buchstäblich vor die Füße gefallen. Und dann, sagt sie, sei da dieser „unglaubliche Hass“ auf ein völlig harmloses Tier, das entgegen aller Gerüchte dem Menschen nicht schade und nur deshalb dessen Nähe suche, weil der Mensch den Felsenbrüter einst domestizierte. Oettl ergreift Partei für eine Kreatur, die dem Rest der Welt im besten Falle Wurst ist. Sie hilft, wo helfen nicht schick ist und selten gewürdigt wird, „denn hier triffst du das geballte Elend“.

Not kann man auch in Flüchtlingsunterkünften finden. Hätten die Menschen, die der Hölle des syrischen Bürgerkriegs entflohen sind, ihre Hilfe nicht nötiger? Müsste man nicht erst Menschen helfen, bevor man Tiere rettet? „Komischerweise kommt dieses Argument immer von Leuten, die sich für nichts und niemanden engagieren“, sagt Oettl. „Und bloß, weil man was für Tiere tut, heißt das noch lange nicht, dass man für Menschen nichts tut. Ich spende zum Beispiel für arme Kinder.“

Die Liebe zu den Tieren und zu überhaupt allen Kreaturen „hat mir meine Mutter reinerzogen“, sagt Oettl. Sie erinnert sich, wie sie als Kind Bienen von der Straße auflas, um sie ins Gras zu setzen. Ein Tier leiden zu sehen, schmerzt sie – egal, was für eines. Ob sich ihre Liebe auch auf weniger possierlichen Geschöpfe erstreckt? Würde sie auch eine Ratte retten oder eine Kakerlake in Not? Oettl verzieht kurz das Gesicht, schluckt, nickt: „Ich würde helfen.“ Ob sie die Tierchen ebenfalls im Wohnzimmer aufnehmen würde, lässt sie aber vorerst mal offen.