Hier kann was Neues entstehen: das Areal des künftigen Rosensteinviertels Foto: DB Bahnprojekt Stuttgart Ulm

Stuttgart ist im Um- und Aufbruch – viele wollen dabei sein. Das eröffnet der Stadt Aufstiegschancen, findet Lokalchef Jan Sellner.

Stuttgart - Reden wir von Visionen. Auweia! Klingt ziemlich abgehoben – wobei Visionen sehr handfest sein können, wie man zurzeit in Stuttgart sehen und vor allem hören kann. Dem Oberbürgermeister und den Gemeinderäten dröhnen von vielen Seiten Rufe nach einer „städtebaulichen Vision für Stuttgart“ in den Ohren. Teile der Bürgerschaft fordern nachdrücklich von ihnen, Vorstellungen zu entwickeln, die über den Tag hinausreichen – jedoch nur so weit, dass auch Aussicht auf Verwirklichung besteht. Der OB hat das verstanden. Fritz Kuhn zitiert neuerdings Hölderlin, der sein Gedicht „Stuttgart“ mit der Zeile schließt: „Aber die größere Lust sparen dem Enkel wir auf.“ Das Stadtoberhaupt hätte es gerne anders: In den Genuss der „größeren Lust“ sollen bereits die heutigen Stuttgarter kommen.

Auffallend ist, wie sehr die Beschäftigung mit der nahen Zukunft gegenwärtig die Lokalpolitik beherrscht. Über die Zukunft wurde auch schon früher diskutiert. Neu ist jedoch, dass Stuttgart als Ganzes in den Blick kommt und die großen Themen – bezahlbares Wohnen, Mobilität, Stadtentwicklung, Kultur – sehr viel stärker zusammengedacht werden.

Stadtentwicklung mit ungewohnter Dynamik

Das ist nicht zuletzt das Verdienst des Vereins Aufbruch Stuttgart, dem es, angeführt von Kulturschaffenden, gelungen ist, der lange lahmenden Stuttgart-Diskussion Leben einzuhauchen. Binnen kurzer Zeit hat sich die Gruppierung zu einer außerparlamentarischen Plattform für Ideenaustausch entwickelt nach dem Motto: Wer Visionen hat, muss zum Aufbruch Stuttgart gehen . . . Am Dienstag war es Oberbürgermeister Kuhn, der auf Einladung des Vereins vor 1000 „Stuttgart-Fans“ im Hospitalhof seine Vision einer autofreien City ausbreitete, ergänzt um die Vision eines Stuttgarter „Kulturrings“ in der Innenstadt samt neuem Konzerthaus. Eine Art Neckarphilharmonie, die im Rosensteinviertel liegen könnte.

Im Thema Stadtentwicklung steckt eine ungewohnte und erfreuliche Dynamik. Ablesbar auch an dem Umstand, dass die Gemeinderäte von CDU, SPD, Freien Wählern und FDP am Freitag kurz entschlossen die Öffentlichkeit suchten, um sich ihrerseits als Antreiber und Gestalter zu präsentieren. Sie drücken aufs Tempo und fordern neue Wettbewerbe für die Gestaltung des Rosensteinviertels, Stuttgarts größtes Erschließungsgebiet, von dem die Stadt rund 80 Hektar besitzt und somit alle Möglichkeiten hat, es urban zu modellieren. In der Tat eine „Jahrhundertchance“, die Ideen und gemeinsame Anstrengungen erfordert.

Die Post-Stuttgart-21-Zeit hat begonnen

Die Veränderung ist im Gang, und viele wollen dabei sein – solange die Zahl der Baustellen in der Stadt nicht ins Unendliche wächst. Interessant dabei ist, dass die Stadtgesellschaft in der Mehrheit gedanklich in die Post-Stuttgart-21-Zeit eingetreten ist. Über das so lange und so heftig umstrittene Bahnprojekt wird heute vor allem unter dem Aspekt der Fertigstellung diskutiert – als Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung Stuttgarts. Der Wettbewerb der Visionen ist also eröffnet. Das bietet Stuttgart Aufstiegschancen. Gut so, denn die Stadt gehört auch bei der Urbanität in die erste Liga.

jan.sellner@stzn.de