Foto: Peter Petsch

Ständig Musik im Ohr und Handy-Botschaften im Blick: Immer öfter sind Verkehrsteilnehmer mit Kopfhörern und Mobiltelefonen abgelenkt – mit schlimmen Folgen. Eine 19-Jährige lief am Dienstag vor eine Stadtbahn und erlitt schwere Kopfverletzungen.

Ständig Musik im Ohr und Handy-Botschaften im Blick: Immer öfter sind Verkehrsteilnehmer mit Kopfhörern und Mobiltelefonen abgelenkt – mit schlimmen Folgen. Eine 19-Jährige lief am Dienstag vor eine Stadtbahn und erlitt schwere Kopfverletzungen.

Stuttgart - Augen auf, Ina! Der Werbefilm der Stuttgarter Straßenbahnen (SSB), der an Haltestellen-Leinwänden und in mit Bildschirmen ausgerüsteten Bahnen vor den Gefahren an Gleisüberwegen warnt, ist am Dienstag in Bad Cannstatt Realität geworden. Aber ohne Happy End. Schwere Verletzungen erlitt eine 19-jährige Fußgängerin, als sie gegen 9.50 Uhr auf Höhe der Haltestelle Nürnberger Straße über einen Gleisüberweg wollte – und dabei eine Stadtbahn der Linie U 1 Richtung Fellbach nicht beachtet hatte.

Die junge Frau hatte die alte B 14 von der Remstalstraße her überquert und wollte über den z-förmigen Gleisüberweg laufen. Dabei achtete sie weder auf das gelbe Springlicht noch auf die von links herannahende Stadtbahn. Für die Polizei kein Wunder: „Laut Zeugen hat sie Kopfhörer getragen und sich mit ihrem Smartphone beschäftigt“, sagt Polizeisprecher Thomas Geiger.

Der 46-jährige Stadtbahn-Fahrer, der gerade die Haltestelle ansteuerte, konnte eine Kollision nicht mehr vermeiden. Trotz Gefahrenbremsung rollte die über 60 Tonnen schwere gelbe Bahn noch eine halbe Zuglänge weiter. Die 19-Jährige wurde mit der rechten Fahrzeugecke erfasst und mehrere Meter mitgeschleift. „Dabei hatte sie noch enormes Glück“, stellt Polizeisprecher Geiger fest, „wäre sie einen Schritt weiter gewesen, wäre sie unter die Bahn geraten und womöglich überrollt worden.“

Die Passantin erlitt Kopfverletzungen, wurde von einem Notarzt versorgt und in ein Krankenhaus gebracht. Nach Angaben der Polizei besteht keine Lebensgefahr. In der Stadtbahn saßen etwa 30 Fahrgäste – sie kamen mit dem Schrecken davon. Bei einer Gefahrenbremsung kurz vor einer Haltestelle hätte leicht ein Fahrgast zu Fall kommen und sich verletzen können. Im Stadtbahnverkehr kam es zu erheblichen Behinderungen. Die U 1 fuhr nur bis zum Cannstatter Wilhelmsplatz. Nach Fellbach wurde ein Ersatzbusverkehr eingesetzt. Erst um 11 Uhr war die Strecke in beiden Richtungen wieder frei.

„Vor Jahren sind wir noch belächelt worden, als wir auf die Unfallgefahren durch Kopfhörer im Straßenverkehr hinwiesen und entsprechende Sanktionen forderten“, sagt Volker Lempp, Justiziar beim Auto Club Europa (ACE). Laut Straßenverkehrsordnung sind Mini-Musikabspielgeräte mit Kopfhörern für Fahrzeugführer verboten, weil „Sicht und Gehör nicht beeinträchtigt werden“ dürfen. Da der Begriff Fahrzeugführer zwar für Radfahrer, nicht aber für Fußgänger gilt, verweist der ACE auf Paragraf 1. „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Aufmerksamkeit.“

Die Botschaft hört man wohl, allein es fehlt der Glaube: Selbst das klare Handyverbot im Auto wird trotz Punkte-Androhung in Flensburg missachtet. Bei einer Umfrage der Sachverständigenorganisation Dekra gaben 22 Prozent der Autofahrer an, auch ohne Freisprecheinrichtung zum Handy zu greifen – obwohl über 90 Prozent der Befragten dieses Verhalten durchaus als gefährlich ansehen.

Fußgänger müssten zwar theoretisch fünf Euro Bußgeld, Radfahrer zehn Euro bezahlen – doch eine polizeiliche Überwachung ist viel zu aufwendig. „Im Bundesverkehrsministerium hat man letztlich die Finger von einer gesetzlichen Verschärfung gelassen“, sagt Verkehrsrechtler Lempp. Immerhin gebe es jetzt mehr Aufklärung und Warnhinweise. „Wer auf Musik im Ohr verzichtet, schützt nicht nur sich, sondern auch andere“, sagt Lempp. Kaum einer sei sich bewusst, dass andere Unfallbeteiligte Haftungsansprüche geltend machen können. In Weilimdorf wurde 2012 ein älteres Ehepaar schwer verletzt, als ein leichtsinniger Fußgänger den Stadtbahnfahrer zu einer Vollbremsung zwang. Der Passant verschwand – und ist bis heute nicht ermittelt. Auf seine Haftpflichtversicherung – wenn er denn eine hat – kämen einige Forderungen zu.