Thomas Schmauser Foto: JU_Ostkreuz

Nach der Uraufführung im April in den Münchner Kammerspielen ist die Koproduktion mit dem Schauspiel Stuttgart am Freitag auf der Bühne im Nord angekommen – immer noch sind es sehr sehenswerte vier Stunden.

Stuttgart - Das Leben kann so schön sein. Vier junge Menschen in einer Sommernacht. Sie fahren auf ihren knatternden Mopeds an den See. Bevor sie sich ins Wasser werfen, greifen sie nach den Sternen. Während die Mädchen sich in die Höhe recken lassen, schnuppern die Jungs an deren Badeanzügen. Alles ist möglich in diesem Augenblick des Glücks. Es gibt kein Gestern und kein Morgen, alles ist jetzt. Die Figuren bewegen sich in Zeitlupe; dieser Moment soll ewig dauern.

So eine Teenager-Szene kann schnell danebengehen, wenn nicht vier Schauspieler sie spielen wie Anja Schneider, Svenja Liesau, Max Simonischek und Edmund Telgenkämper. Lustig, aber nie chargierend, mit großer Liebe und Verständnis für die Figur geprägt. Mit wenigen Mitteln holen sie alles aus der Szene. Der See ist eine Pfütze im Schauspiel Nord, es gibt keine Mopeds, es gibt nur knatternde Münder und kreischende Stimmen, es gibt keine Sterne, nur den Blick zu ihnen, es gibt keinen Sommer, und doch ist alles voller Wärme.

So wunderschön dieser Moment ist, so traurig ist der Rest der Inszenierung. Denn alles, was Fritz Kater und Armin Petras um diese Szene herum gebaut haben, ist das Unglück der Schöpfung. Keine Hoffnung nirgends. „Buch (5 ingredientes de la vida)“ - im April an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und am Freitag auf die Nord-Bühne am Pragsattel zur Stuttgarter Premiere gebracht – beginnt mit dem Versuch einer machohaften Zukunftsbeschwörung. Wissenschaftler in Clubsesseln (gedreht wurde im Stuttgarter Jazzclub Bix): Auf vier Leinwänden sieht man, wie sie hehre Pläne entwickeln, sich von Frauen in Playboy-Bunny-Ästhetik umgarnen lassen. Der Zuschauer steht im Raum und muss aufschauen zu den über ihm schwebenden Videoprojektionen. Darum geht es hier: um das große Ganze und den kleinen Menschen. Deshalb ist der Zuschauer so ins Geschehen eingebunden. Er nimmt Teil an der perspektivischen Verschiebung. Mal fühlt er sich groß und ganz nah an den Menschen, spürt sie atmen, wird bespritzt, riecht sie. Mal fühlt er sich winzig und wird auf Distanz gehalten, wenn er die Wissenschaftler unnahbar auf Leinwand sieht.

Was die Wirklichkeit sein kann, zeigen Kater/Petras mit einer Parabel auf den Raubtierkapitalismus

Fritz Kater, Armin Petras schreibendes Alter Ego, teilt den Text in „fünf Bestandteile des Lebens“, so der Untertitel, er umspannt die Zeit von 1966 bis in die Gegenwart. Jeder Teil steht inhaltlich und ästhetisch für sich. Und trotz aller Welt-Tristesse zeigt Kater, das Leben ist auch Fantasie. Man muss es erst einmal erfinden. Zwei Kinder stehen sich auf Podesten gegenüber und suchen nach ihrer Mutter. Es schneit, niemand kümmert sich um sie. Dem verzweifelten Zustand begegnen sie mit dem Erfinden von Geschichten. Erzählen ist Überleben. Und poetische Selbstaussage des Autors. Der Zuschauer steht inmitten dieses erzählerischen Luftstroms, staunt, wie großartig die Darsteller es hinbekommen, sich erzählend die Wirklichkeit vom Leib zu halten.

Was die Wirklichkeit sein kann, zeigen Kater/Petras mit einer Parabel auf den Raubtierkapitalismus. Hier geht es um das Schicksal einer Elefantenkuh in Tansania, um Wilderer, das Recht des Stärkeren. Max Simonischek, Svenja Liesau und Edmund Telgenkämper wälzen sich auf dem Boden, imitieren Tiere, klatschen mit Lederjacken auf den Boden. Ein Bild für das, was auch Leben ist: Kampf gegen den Tod. Im Vergleich zur Uraufführung ist der Part kompakter, kürzer. Die unter Mitarbeit von Berit Jentzsch entstandene Choreografie hat etwas von einem esoterischen Befreiungstanz. Archaische Wucht ist intendiert, doch der Bullentanz bewegt sich bemüht wild zwischen Rugbyspiel, rhythmischer Sportgymnastik und der brasilianischen Tanztechnik Capoeira.

Der eigentliche Höhepunkt des Abends nach der Pause. Ein Skelett auf der Bühne, ein Mammut. Ein ökologisch motivierter Künstler (Thomas Schmauser) plant eine Aktion im westlichen Afrika, verdrängt aber, dass sein Hase krank ist, sein kleiner Sohn. Der Arzt (Edmund Telgenkämper) hat das Kind im Grunde schon aufgegeben. Er setzt nur noch auf Kamillentee und wünscht sich vom Vaterkünstler Kunstbespaßung in der Klinik. Etwas mit Clowns vielleicht. „Du bist nicht da, wenn dein Kind krepiert, du Schwein.“

Zum Schluss betreten tatsächlich Clowns die Bühne

Seine Frau (Anja Schneider) ist ein einziger Vorwurf. Ihre Blicke senden tausend Nadelstiche aus. Schmauser ignoriert sie. Er redet sich in Rage, selbstmitleidig, doch macht er sich auch über sich selbst lustig. Über den Typus des Künstlers, der ständig unterwegs ist, alle Flugpläne in- und auswendig kennt zwischen Berlin und sonst wo. Einer, der Kette raucht, literweise Coffein in sich schüttet, auf dem Boden kniend Ideen auf Papier kritzelt. Der Künstler als Schöpfer. Er redet manisch – sprechend kommt seine Frau nicht gegen den unendlichen Monolog an. Mit Blicken schon. So ein beredtes Schauen wie das von Anja Schneider hat man lange nicht gesehen. Man hört ihre Gedanken. Alles – ihre Verletzlichkeit, ihr Selbstmitleid, ihr Vorwurf an alles, was männlich ist, was Künstler ist, was nicht ihrem Wunsch nach Leben und Familie entspricht – ist in einem Blick konzentriert.

Zum Schluss betreten tatsächlich Clowns die Bühne. Keine Bespaßung, es sind traurige Clowns. Das alles ist so lächerlich und schön, dass man es sich gleich noch mal anschauen würde. Schade nur, dass es nach dem großen Auftrieb in München jetzt kaum über 100 Leute ins Nord geschafft haben. Das trübt die Stimmung der knapp vierstündigen Inszenierung, die doch sehr auf die Präsenz des Zuschauers baut, Nähe und Ferne, die Vergrößerung und Verzwergung der Kreatur zum Thema hat. Ein Abend, der zeigt: Das Leben, es kann auch so schrecklich sein.

Nächste Vorstellung: 29. 11., 18 Uhr. Kartentelefon 07 11 / 20 20 90. www.schauspiel-stuttgart.de