Lautstarker Empfang: Enrico Pieri (rechts) mit seiner Anwältin Gabriele Heinecke Foto: Peter Petsch

Als SS-Mitglieder im August 1944 seine Familie und das ganze Dorf auslöschten, endete Enrico Pieris Jugend auf einen Schlag. Nun kämpft er dafür, dass auch die deutsche Justiz Anklage erhebt.

Stuttgart - Die Stimmung vor dem Justizgebäude an der Olgastraße ist am Donnerstag aufgeheizt: Über hundert Demonstranten halten Transparente in die Luft, überall deutsch-italienisches Stimmengewirr, das in Applaus mündet, als Enrico Pieri den Vorplatz erreicht. „Grazie“, sagt er gerührt, als das Blitzlichtgewitter einsetzt, „ich bin ein einfacher Mann.“ Er ist am Vortag eigens aus Italien angereist, um mit seiner Anwältin Gabriele Heinecke bei der Generalstaatsanwaltschaft Beschwerde einzureichen.

Es geht um einen der letzten Fälle deutscher Kriegsverbrechen, ein Ereignis, das das Leben des heute 78-jährigen Enrico Pieri auf tragische Weise geprägt hat. In seinem toskanischen Heimatdorf Sant’Anna di Stazzema richteten Mitglieder der Waffen-SS am 12. August 1944 ein Massaker unter Zivilpersonen an. Schätzungsweise 560 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, kamen ums Leben, das ganze Dorf wurde dem Erdboden gleichgemacht. Pieri war aus seiner Familie der einzige Überlebende.

Zorn richtet sich gegen die Stuttgarter Entscheidung

2005 verurteilte die italienische Justiz in La Spezia zehn frühere Angehörige der Waffen-SS in Abwesenheit zu lebenslanger Haft – sie wurden von den deutschen Behörden jedoch nie ausgeliefert. Nach jahrelangen Ermittlungen teilte die Staatsanwaltschaft Stuttgart am 1. Oktober des vergangenen Jahres mit, dass keine Anklage erhoben werde, da es nicht gesichert sei, dass es sich bei dem Massaker um eine geplante und befohlene Vernichtungsaktion gegen Zivilisten gehandelt habe. Die Zugehörigkeit zur Waffen-SS allein reiche demnach nicht aus.

Gegen diese Entscheidung und besonders gegen die Person des Oberstaatsanwalts Bernhard Häußler richtet sich nun der Zorn. Enrico Pieri ist auf Einladung einer Solidaritätsinitiative nach Stuttgart gekommen, um ein Zeichen zu setzen. In das Justizgebäude darf er nicht – genauso wie die Demonstranten, die angesichts der verstärkten Polizeikräfte vergeblich Einlass begehren. Pieris Anwältin gibt die Beschwerde alleine beim Sachbearbeiter ab.

„Ich hätte es für angemessen gehalten, wenn die Staatsanwaltschaft Herrn Pieri empfangen hätte“, sagt Gabriele Heinecke, als sie eine halbe Stunde später das Gebäude verlässt. Sie kann die Entscheidung des Oberstaatsanwalts nicht verstehen. „Man weiß aus historischen Quellen, dass bei dem Massaker besonders fanatische SS-Mitglieder dabei waren“, sagt sie. Zumindest hätte jedem Beteiligten damals klar sein müssen, wozu sie in das Bergdorf gingen. „Es war eine verbrecherische, mordende Bande.“

Sollte die Beschwerde in den kommenden Monaten abgewiesen werden, könnte ein Klageerzwingungsantrag den Fall ans Oberlandesgericht bringen. „Aber ich wage zu bezweifeln, dass bis dahin noch jemand lebt“, sagt die Anwältin. Schon heute sei in Baden-Württemberg von vier mutmaßlichen Tätern nur noch einer am Leben.

Enrico Pieri hat gelernt, mit seinem Trauma zu leben. In seinem Heimatort erzählt er heute jungen Menschen, was damals passierte, als seine Jugend im Alter von zehn Jahren jäh endete. Ihm ist die Gegenwart wichtiger als die Vergangenheit. „70 Jahre Frieden in Europa, das verdanken wir auch den Opfern von Sant’Anna“, sagt Pieri.