Leidenschaftlich, aufmüpfig, mit weiblichen Reizen: So sah Autor Prosper Merimée die Carmen – und so zeigt sie auch das Tanzstück „Mi Carmen Flamenca“ Foto: Fidel Meneses

„Mi Carmen Flamenca“ heißt der neue Abend der Compania Flamenca Antonio Andrade aus Andalusien. Nach dem Debüt in Berlin und Gastspielen bis nach China kommt die Show am 30. September und 1. Oktober 2015 ins Stuttgarter Theaterhaus. Brigitte Jähnigen besuchte Sevilla auf den Spuren von Carmen.

Sevilla/Málaga - Die schleppenden Noten der Habanera aus Georges Bizets Oper „Carmen“ führen im Conservatorio superior de danza in Málaga in den Probenraum Nummer 1. Vor einem großen Spiegel knallen die Absätze der Tänzerinnen auf den Schwingboden. Kleine Falten der Konzentration stehen zwischen ihren dunklen Augenbrauen, als sie im Dialog mit den dumpfen Schlägen einer Cajón-Trommel eine Szene aus dem dritten Akt der Show „Mi Carmen Flamenca“ proben.

Ursula Moreno tanzt die Titelfigur. Mit Händeklatschen übernimmt sie das Metrum, das Antonio Andrade auf der Gitarre vorgibt. Er ist der künstlerische Leiter der Compania Flamenca Antonio Andrade, die er 2001 gegründet hat. 2013 wurde die Show „Mi Carmen Flamenca“ (Choreografie: Manolo Marín, Ùrsula Moreno, José Galvan) neu inszeniert. Die Geschichte der Carmen – der legendären Frauenfigur aus der Tabakfabrik von Sevilla, die der französische Romancier Prosper Mérimée mit seiner gleichnamigen Novelle unsterblich machte – ist auch für Andrade ein attraktives Sujet.

Filmemacher, Librettisten, Komponisten und Choreografen suchten immer wieder die künstlerische Annäherung an diese Frau, die wie kaum eine andere für Begehren, Eifersucht und Rache steht. Am berühmtesten wurde Carmen durch Bizets Oper. Der andalusische Dichter Federico Garcia Lorca schrieb begeistert: „Da tanzt die Carmen durch die Straßen Sevillas. Grau sind ihre Haare und leuchtend die Pupillen. Mädchen, macht die Vorhänge auf.“ Und Antonio Andrade, der Andalusier, hat sich für seine Produktion vorgenommen: „Gänsehaut und Tränen im Publikum, das ist mein Ziel.“

Spurensuche - ein Vergnügen

In Sevilla, der Hauptstadt Andalusiens, Carmens Spuren nachzugehen ist ein Vergnügen. Am Abend tauchen Spots die Kathedrale Maria de la Sede (seit 1987 Weltkulturerbe) und die Giralda, den Glockenturm, in prunkvolles Licht. Flopp – in die Stille zwischen Pferdegetrappel und Kutschengeräusch fällt am Eingang des Barrio de Santa Cruz eine Pomeranze vom Baum. Namen wie Judíos, Levíes, Agua und Vida erinnern an die sephardische Vergangenheit des Viertels. Im 13. Jahrhundert, dem islamischen Al-Andalus, lebten in Sevilla 5000 Juden.

Innenhof und Fenster des Restaurants Corral del Agua in der Calle del Agua sind dunkel. Hier siedelte George Bizet den zweiten Akt seiner Oper an. Die Fantasie gaukelt vor: An der Theke werden Stücke vom Iberoschinken heruntergesäbelt, aus Gläsern duftet Rotwein, Carmen, Frasquita und Mercedes, ihre Freundinnen, befeuern mit Gesang und Tanz die Stimmung. Nur wenige musikalische Sequenzen kann es nun noch dauern, bis der Stierkämpfer Escamillo (er braucht von der Arena wenige Minuten bis hierher) und José, Carmens Objekt der Begierde, aufeinanderprallen.

„In dieser Schenke trafen sich Carmen, ihre Freundinnen aus der Zigarrenfabrik, Schmuggler und die Miliz“, holt Carmen Izquierdo Navajas uns in die Gegenwart zurück. Die Frauen, die morgens aus dem Triana-Viertel jenseits des Guadalqivirs in die Tabakfabrik kamen, hätten nach Feierabend nur einen kurzen Weg bis zur Schenke in der Calle del Agua gehabt, erzählt die Deutsch sprechende Sevillanerin.

Mérimée beschreibt Carmen als aufmüpfig

Ein großes Tor zur Tabakfabrik ist Schauplatz des ersten Akts. Heute als rechtswissenschaftliches Institut von der Universität Sevilla genutzt, waren hier im 18. Jahrhundert Tausende von Frauen damit beschäftigt, aus Tabakblättern Zigarren zu drehen. Ein Gemälde von Gonzalo de Bilbao zeigt sie bei der Arbeit: Frauen, die nebenbei ihre Kinder versorgen und wie in der Oper singen. Fabrik und Frauen wurden gut bewacht, ein Wassergraben umgab die massive Vierflügelanlage, die über eine eigene Gerichtsbarkeit, über ein Gefängnis und eine besondere Militärwache verfügte.

Unschwer sich vorzustellen, wie die Frauen Zigarren schmuggelten und deshalb Soldaten bezirzten. Mérimée beschreibt Carmen als aufmüpfig, selbstbewusst, mit weiblichen Reizen. Bizet hat ihr die berühmte Habanera „Ja, die Liebe hat bunte Flügel“ auf den Leib geschrieben. „Carmen ist Andalusien, Flamenco ist Andalusien. Wir bringen mit unserer Show beides zu den Wurzeln zurück“, sagt Antonio Andrade.

Wie der Stierkampf ist der Flamenco Teil der Kultur Andalusiens, beide wirken durch ihre starke Ritualisierung, die Emotionen, die sie auslösen. Historisch sind auch die Gesänge, mit der Rocìo Alcalá und José Luis Garcia „Cheito“ die Tänzer der Compania Flamenca Antonio Andrada anfeuern. Viele Melodien sind Moll-dominiert, wechseln häufig in die Kirchentonart phrygisch. Modernisiert hat Antonio Andrade sein Musikensemble, in das er auch Querflöte und Saxofon integrierte: „Flamenco tanzt man nicht, man lebt ihn“, sagt er.