Klicken Sie sich durch unsere Bildergalerie. Foto: Stuttgarter Ballett

Mit einem dreistündigen Tanzfest verabschiedet das Ballett seinen Choreografen Christian Spuck.

Stuttgart - Wer gedacht hat, er kommt an diesem Abend ohne Tränen davon, der wurde eines Besseren belehrt – noch bevor die Show losging. Eine Gala für den scheidenden Hauschoreografen? Natürlich tritt da erst einmal der Ballettintendant vor den Vorhang. Und Reid Andersons Abschiedsworte an einen Künstler, den er von den ersten Schritten an gefördert hat, waren so emotional, dass die Tragweite des Verlusts auch für den begreifbar war, der sich zufällig ins Stuttgarter Opernhaus verirrt hatte.

Es war also gleich da, dieses Gefühl, welches das Stuttgarter Ballett seit vielen Jahren vermittelt: Wir sind eine Familie. Und weil man sich aus einer Familie nicht verabschieden kann, sondern selbst am Ende der Welt weiter dazugehört, war die „Gala für Christian Spuck“ mehr Freudenfest als Trauerfeier – dafür hatte der Choreograf eigenhändig Sorge getragen. „Es ist für alle fantastisch“, versuchte auch Reid Anderson den Abschied von Christian Spuck und den beiden Solisten Katja Wünsche und William Moore, die mit nach Zürich wechseln, positiv zu sehen. „Sie verlassen uns, aber sie nehmen etwas mit, etwas Stuttgarterisches. Und nicht vergessen: Zürich ist nur zwei Stunden weit entfernt.“

Für Spuck fährt mancher nach Zürich

Nach einem dreistündigen Tanzfest im Stuttgarter Opernhaus, das mit Luftschlangen, bunten Ballons, Standing Ovations und mancher Träne endete, ist eins gewiss: Von Oktober an werden einige ins Auto steigen und Christian Spucks Weg an seiner neuen Wirkungsstätte weiterverfolgen. Denn der Choreograf hatte seinen Stuttgarter Abgang mit Auszügen aus eigenen Werken und Beiträgen von Weggefährten so klug illustriert, dass der Verlust, von dem Reid Anderson sprach, tatsächlich maximal spürbar wurde. Und so war diese Gala für und von Christian Spuck auch eine schöne Werbeveranstaltung in eigener Sache.

Was wir vermissen werden? Gleich der erste von 13 Programmpunkten deutete es an, und da war noch kein Schritt getanzt. Mit der Ouvertüre zu Spucks erstem Handlungsballett „Lulu“ gehörte die ganze Aufmerksamkeit der Musik. Und als sich der Vorhang öffnet, lässt sich Alicia Amatriain so verführerisch, so weich und anschmiegsam in die Arme Evan McKies, aber vor allem in die Klänge Schostakowitschs fallen, dass die Musikalität dieses Choreografen greifbar ist. Musik ist für ihn nicht nur Motor von Bewegung, sondern immer auch Stimmungsträger, Kontrastmittel, Denkanstoß, erzählendes Moment. Vom ersten Stück für die eigene Kompanie an ist sie ganz körperlich präsent – beim Gala-Abend fordern vier Streicher des Staatsorchesters mit einem Auszug aus Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ die Tänzer auf offener Bühne regelrecht heraus.

Bei aller Spuck-typischen Durchdachtheit, die mit abrupten Stopps der Schönheit gern ein Bein stellt, ist das getanzte Resultat sehr musikalisch. Für Drive sorgen dabei dynamisch nie auf Effekt gestellte Gruppen, wie viele Beispiele an diesem Abend zeigen: die zwölf fies über die Schulter schielenden Begleiter Lulus, die tölpelig starrenden Wirtshausgäste aus „Leonce und Lena“ oder die ganz abstrakt aus der Musik gewonnenen Formationen im zweiten Akt des „Fräulein von S.“, Spucks jüngstem Stuttgarter Handlungsballett.

Als Leonce und Lena winken Katja Wünsche und William Moore ein letztes Mal

Was die Stuttgarter Tanzszene verliert, der Christian Spuck durch seine Wurzeln in Marco Santis Danse Ensemble verbunden blieb, zeigen die Gäste von Gauthier Dance. Im Dialog mit den Tänzern der Theaterhaus-Kompanie, der Christian Spuck mit „Don Q.“ den Weg bereiten half, brachte er seine Auseinandersetzung mit den Fragen von Wahrnehmung und (Selbst-)Täuschung am lockersten auf den Nenner. Zwei Szenen mit Egon Madsen und Eric Gauthier aus Spucks Don-Quijote-Revue machen den Jungen zum Sinnbild allen Träumens, den Alten zum personifizierten Scheitern – und erzeugen Momente schöner Innigkeit.

Eine Innigkeit, die Christian Spuck auch im Dialog mit den Stuttgarter Choreografen-Kollegen fand. Ein bisschen dazu gehört Mauro Bigonzetti, während Christian Spucks Karriere häufiger Gast. Geschaffen hat der Italiener hier 1996 „Kazimir’s Coulours“. Und im zentralen Pas de deux daraus finden Elizabeth Mason und Alexander Zaitsev in der Balance von Halten und Wegstreben schöne Bilder für den Abschied. Aber vor allem die Stücke von Marco Goecke, Demis Volpi, Douglas Lee und Louis Stiens’ stehen an diesem Abend für das große kreative Potenzial des Stuttgarter Balletts.

„Alles Gute für Zürich!“

Dieses reich bestellte Feld zeigt uns Christian Spuck wie zum Trost. Wie schwer wiegt Abschied, wenn ein junger Tänzer wie Louis Stiens sich in „Mäuse“ zum vielversprechenden Choreografen häutet? Wenn Demis Volpi in „Fingerspitzengefühl“ ebensolches beweist und im Dialog von Marijn Rademaker und Evan McKie mit spektakulären Spiegelungen über das Verhältnis von Künstler und Werk nachdenkt? Wenn einer wie Goecke bleibt, der uns in „Äffi“ mit den schwarzen Momenten menschlichen Daseins konfrontiert?

William Moore stürzt sich für uns in den Abgrund und ergründet ihn mit einer Präzision, dass das Scheiden von diesem Tänzer natürlich wehtut. Auch eine wie Katja Wünsche lässt man ungern ziehen. Douglas Lee, nun freischaffender Weggefährte Spucks, setzt mit seiner Uraufführung „Aria“ die ganze Kunst dieser beiden Tänzer in Szene, indem er Balancen auskostet, Bewegungen schichtet, Begegnungen akrobatisch zuspitzt. Im synchronen Nebeneinander und verwundenen Hebungen findet er zudem wunderschöne Bilder für den Abschied.

Als Leonce und Lena winken Katja Wünsche und William Moore ein letztes Mal, während Buri Ives aus dem Ghettoblaster mit „A Little Bitty Tear“ echte Tränen zum Fließen bringt. „Alles Gute für Zürich!“ wünscht ein großes Transparent am Ende Christian Spuck. Es ist ein Abschied, den an diesem Abend ein Song Johnny Cashs am schönsten fasst: „We’ll meet again“ – am 13. Oktober in Zürich.