Einbahnstraße Sport: Laufen ist bei Sportsüchtigen besonders beliebt, denn es ist einfach und überall möglich Foto: Getty Images North America

Sport ist gesund, Bewegung tut gut. Meistens zumindest. Doch wenn das Sportprogramm ausufert, kann sich daraus eine Sucht entwickeln. Die Folgen für Körper und Psyche der Betroffenen sind gefährlich.

Stuttgart - Äußerlich ist nichts mehr zu sehen von der Sucht. Nur eine Narbe am Rücken ist geblieben von bis zu neun Stunden Sport am Tag. Monika (27) war sportsüchtig. Die Narbe am Rücken der Doktorandin stammt vom exzessiven, oft stundenlangen Bauchtraining. Egal wo. Egal, wie hart der Boden war. Eine offene Stelle am Rücken hatte sich entzündet, weil sie nicht aufhören konnte. Trotz der Schmerzen.

Einen Stepper, eine Bauchmuskelwippe und Hanteln hatte sie in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung. „Ich hatte alles da, konnte direkt anfangen und musste gar nicht mehr vor die Tür“, sagt sie. Nachdem sie stundenlang joggen war, machte sie noch Kniebeugen und Sit-ups. Immer seltener war Monika fröhlich. Selbst Probleme ihrer Freunde prallten an ihr ab wie an einer Mauer. In ihrem Kopf drehte es sich alles nur noch um eins: um Sport.

Sportsüchtige stellen die Bedürfnisse und Schmerzen des Körpers hintan. „Sie sehen teilweise nicht, wie stark sie ihren Körper schädigen“, sagt Thomas Schack, Sportwissenschaftler und Psychologe an der Universität Bielefeld. Es gebe Süchtige, die ihre Füße bis auf den Knochen herunterlaufen oder mit einer Grippe gegen ärztlichen Rat an einem Marathon teilnehmen. Auch Todesfälle soll es bereits gegeben haben.

Doch nicht jeder, der viel Sport treibt, ist süchtig. Entscheidend ist die Einstellung zum Sport. „Sucht ist es, wenn man nicht mehr in der Lage ist, selbstständig Stopp zu sagen“, sagt der Sportwissenschaftler: „Der Sport hat die Kontrolle über den Menschen.“

Wie bei Monika. Sie meldete sich häufig krank, vernachlässigte Freundschaften und baute eine unüberbrückbare Distanz zu ihrem damaligen Freund auf. Bei ihr drehte sich alles nur noch darum, möglichst viel Sport zu machen. Am besten noch mehr als beim letzten Mal.

Laufen ist bei Sportsüchtigen besonders beliebt. Schuhe an, und los geht es – mehr ist nicht nötig. „Es ist einfach und überall möglich“, sagt Thomas Schack. Es gibt Sportsüchtige, die sehen ihre Turnschuhe und verspüren sofort den Zwang zu laufen, erklärt Schack. Sie drehen durch, wenn sie mal keinen Sport machen können, haben Angst, nicht laufen zu können. Und ähnlich wie bei Drogen- oder Alkoholsucht leiden auch Sportsüchtige unter Entzugserscheinungen. Die Betroffenen schlafen schlecht, sind unruhig und leicht reizbar.

Besonders Menschen, die unter einem geringen Selbstwertgefühl leiden und eine hohe Stressneigung haben, sind laut Thomas Schack in Gefahr, süchtig zu werden. Sie suchen den Kick, den sie im Privatleben oder im Job nicht mehr bekommen. „Die Sportsüchtigen suchen Erfolg und Anerkennung im Sport“, sagt er. Auch Monika berichtet, dass dieser Kick ausschlaggebend war. „Bei keiner anderen Sache kann man sich so leicht steigern und sich selbst überbieten.“

Beim Sport bekommen die Menschen dann die Bestätigung, die im Alltag fehlt. Der Körper schüttet Endorphine, Glückshormone, aus. Es ist möglich, vom Alltag abzuschalten. Die ehrgeizige Monika gewinnt durch den Sport Abstand vom Stress an der Uni. Um diesen Kick zu bekommen, reichen der jungen Frau aber irgendwann eineinhalb Stunden Thai Bo nicht mehr. „ Ich bin zum Kurs hingejoggt und habe danach noch zusätzliche Übungen, bis in den späten Abend hinein, gemacht“, sagt Monika.

Auch ein Blick in Fitnessstudios zeige, dass viele Menschen das Gefühl verloren haben, was gut für ihren Körper ist. „Sie haben etwas Gehetztes an sich, sie stehen unter Druck“, sagt Schack. So beschreibt auch Monika ihre Gefühle. „Ich habe mich getrieben gefühlt: Du musst das jetzt schaffen“, sagt sie.

Hinzu kommt bei vielen Sportsüchtigen noch eine andere Erkrankung: Monika litt an Sportbulimie. Nachts plünderte sie den Kühlschrank und stopfte Schokolade und Eis in sich hinein. Allerdings übergab sich die junge Frau nicht, sondern sie trainierte das übermäßige Essen wieder ab. Ohne tagsüber etwas zu essen. Dafür trank sie schwarzen Kaffee und koffeinhaltige Limonade.

Jens Kleinert, Sportpsychologe an der Sporthochschule Köln, sieht auch in den Idealbildern von Schönheit, Jugend und Gesundheit einen Auslöser für übermäßiges Sporttreiben. „Diese Idealbilder sind ein Nährboden für Störungen der Körperwahrnehmungen“, sagt er. Sport werde zu wenig gemacht, weil er Spaß mache, sondern weil man beispielsweise abnehmen wolle. „Wenn jemand an einer Essstörung leidet, wird der Sport ganz schnell zum Instrument“, sagt Kleinert. Der Weg in die Abhängigkeit sei dann nicht mehr weit.

Der Weg raus aus der Sucht umso mehr. „Ich musste selbst erst mal begreifen, was los ist. Ich dachte: Ich laufe doch nur“, sagt Monika. Erst eine Therapie half der jungen Frau aus ihrer Sucht heraus. „Die Person muss erst mal einsehen, dass der Sport ein Problem ist“, sagt Kleinert. Umso wichtiger sei es, dass man mit der Person, die vielleicht ein bisschen zu viel Sport mache, ins Gespräch komme. „Dabei kann man herausfinden, ob negative Gefühle mit dem Sport verbunden werden“, sagt er.

Monika verbrachte mehrere Monate in einer Spezialklinik für Essgestörte in Nordrhein-Westfalen. Dort lernte sie, ihren Körper wieder zu mögen und normal zu essen. Mit den Therapeuten hat sie einen Sportplan erstellt,der ihr und ihrem Körper guttut.

Die Stepper, Bauchmuskelwippe und Hanteln sind verschwunden, und sie ist in eine neue Wohnung gezogen. Auch ihr altes Gewicht hat sie wieder. Geblieben ist nur eins: die Narbe an ihrem Rücken.