In der Alhambra sind Tafeln fürBlinde aufgestellt, an denen Ausschnitte zum Beispiel der Stuck-Ornamente ertastet werden können. Foto: Kiunke

Sehen ist nur eine von vielen Möglichkeiten, ein fremdes Land wie Spanien zu erleben. Viele (Sinnes-)Erfahrungen sammeln Blinde und Sehende, wenn sie miteinander verreisen.

Granada - Heute ist Jörg Strothmann dran. Der grauhaarige Mann aus Bielefeld wird sich beim Rundgang durch Granada am Arm der Autorin festhalten und darauf vertrauen, dass sie rechtzeitig Treppen und Hindernisse ankündigt. Dass Jörg Strothmann (46) bis auf wenige Hell-dunkel-Unterschiede fast nichts mehr sieht, würde man bei ihm kaum vermuten. Durch seine Brille blickt er einen mit offenen Augen freundlich an. Seine Sehfähigkeit habe er erst nach und nach verloren, erzählt der Beamte auf dem Weg ins Zentrum von Granada.

Vor elf Jahren musste Strothmann die Blindenschrift lernen. Bei der Arbeit wird er einmal die Woche von einer sehenden Kollegin unterstützt, sonst kommt er mit Computer und anderen Hilfsmitteln allein zurecht. „Hoppla“, ruft er plötzlich, als er gegen einen Bordstein stößt. Vor lauter Geplauder hatte seine Begleiterin versäumt, die Stufe zum Trottoir rechtzeitig anzukündigen. „Kein Problem“, sagt Jörg Strothmann, lacht und tritt kurz darauf in das Portal der ehemaligen Karawanserei von Granada. Die stolze Stadt vor den Bergen der Sierra Nevada war fast 800 Jahre lang in den Händen der Mauren, die einst von Nordafrika nach Südspanien kamen und erst 1492 von den katholischen Königen Isabella und Ferdinand vertrieben wurden.

Als letzte Bastion in Andalusien fiel Granada. Dort hatten sich die Mauren kurz vor ihrem Ende noch ein Denkmal geschaffen, dass ihre Herrschaft unvergessen machen würde: die prächtige Festungsanlage Alhambra mit ihren vielen Palästen und Gärten. Doch nicht nur dort, auch sonst in der Stadt sind die Spuren der Mauren unübersehbar, etwa am Eingang der Karawanserei, der mit einem prächtigen Hufeisenbogen geschmückt ist. „Das ist ein typisches Erkennungszeichen arabischer Architektur“, erzählt Reiseleiterin Laura Kutter, Inhaberin und Gründerin von Tour de Sens, einem Veranstalter, der sich auf Reisen für Blinde und Sehende spezialisiert hat.

Die Kamera bewusst zu Hause gelassen

Die Hälfte der Teilnehmer auf dieser Fahrt durch das herbstliche Andalusien ist blind, wie Jörg Strothmann, aber auch Uschi Steinecke und Gudrun Runge, Freundinnen und Mütter von erwachsenen Kindern. Auch Ehepaare sind dabei, manche mit Sehbeeinträchtigungen, manche ohne. Renate Schöttle-Glembin, sehend, ist bereits zum zweiten Mal dabei. „Ich nehme auf einer solchen Reise vieles viel bewusster wahr“, begründet sie. Andrea Querberitz, ohne Blinden-Erfahrung, ist gespannt auf neue Begegnungen. Die Hobbyfotografin hat die Kamera bewusst zu Hause gelassen - zu Recht, denn das Sehen, auch durch das Auge der Kamera, soll und kann auf dieser Reise nicht die Hauptrolle spielen. Laura Kutter (32) weiß, wie sie für ihre blinden Gäste die Besonderheiten Granadas veranschaulicht, zum Beispiel den Hufeisenbogen, der einem an vielen Gebäuden begegnet.

„Formt mit Zeigefinger und Daumen einen Bogen und haltet die Enden etwas nach innen.“ Voilà - ein Hufeisen. Wo möglich, werden Dinge berührt und betastet. In der Alhambra stehen dafür extra Tasttafeln bereit mit Proben der kunstvollen Holzarbeiten, prachtvollen Stuck-Ornamenten und glatten Mosaiken. Im Bus lässt Laura eine Reliefkarte Andalusiens herumgehen, die die Gegensätze der Topografie veranschaulicht: die bis zu 3000 Meter hohen Berge der Sierra Nevada im Osten und die große Ebene im Westen bis zum Atlantik. Auf dem Platz zu Ehren des berühmten andalusischen Sängers Carlos Cano in Granada ertönt von Laura Kutters MP3-Player eines seiner melancholischen Lieder.

Für die blinden Gäste sind solche Sinneserfahrungen wesentlich, für die anderen eine freudige Überraschung. Sie profitieren von dieser Reise eigentlich doppelt: Sie sehen und bekommen viele weitere Sinneseindrücke noch obendrauf. Aber wie gut sieht man denn wirklich? Sehr schnell bemerkt man, dass man vieles eigentlich erst durch Laura Kutters sehr anschauliche und interessante Beschreibungen bewusst wahrnimmt, wie etwa auf dem Aussichtspunkt auf dem Albacín, dem alten Stadtteil Granadas. Direkt gegenüber erstreckt sich auf einem Bergrücken die Alhambra, die „rote Burg“, wie die riesige Schlossanlage im Arabischen heißt. Ja klar, da steht sie, unübersehbar.

Unterstützung durch Sehende

Aber erst als Laura Kutter beginnt, das Gesehene in Worte zu fassen, schaut man genauer hin. Auf die sich schon leicht verfärbten Laubbäume unterhalb des Hangs, die dank eines von den Mauren ausgeklügelten Bewässerungssystems gut die heißen Sommer verkraften. Auf die von außen schlichten Nasriden-Paläste mit ihren vielen Arkadengängen. Den Kirchturm dahinter, nach der spanischen Eroberung auf eine Moschee gebaut und auf den klobigen Renaissance-Bau, den Karl V. als mächtiges Zeichen der Sieger bauen ließ. Dass Blinde auf Reisen Unterstützung durch Sehende brauchen, liegt auf der Hand. Bei Tour de Sens fahren die Sehenden jedoch nicht als angestellte Begleiter mit, sondern sind normale Teilnehmer, die sich bewusst dafür entscheiden, während der Reise einem Blinden zu helfen. Jeden Tag gibt es neue Zweier-Teams. Gestern Uschi aus Weimar, heute Jörg, morgen Brigitte, Schwäbin aus Waiblingen.

So lernen sich alle kennen. Es geht dabei nicht um eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, sondern um kleine Hilfestellungen. Aufs Zimmer begleiten, vom Frühstücksbüfett Brötchen und Wurst holen, im Restaurant die Karte vorlesen oder bei der Stadtführung den Arm reichen. Sehende zahlen dafür einen deutlich verminderten Reisepreis. Was Andrea Querberitz gar nicht einleuchtet. „Ich bezahle weniger, mache aber doch voll Gewinn“, resümiert die große, blonde Mittfünfzigerin schon nach wenigen Tagen. Die kleinen Tricks, die Blinden helfen, sich zu orientieren, hat man schnell raus, etwa die Ausrichtung an der Uhr. So steht das Weinglas am Tisch auf 13 Uhr, der Sommerpalast der Mauren liegt - vom Aussichtspunkt auf dem Albacín betrachtet - dagegen auf 10 Uhr.

Wenn es dann doch mal kleine Pannen gibt, kein Problem. „Wir erleben etwas gemeinsam mit Sehenden und werden ganz normal behandelt“, meint Brigitte Holzinger, die seit ihrer Geburt ohne Augenlicht lebt. Ein Sinn scheint für alle gleich bedeutsam. Was wäre eine Reise ohne Essen, Spanien ohne den Besuch einer typischen Tapas-Bar? Tapas sind kleine Happen, die zu einem Getränk serviert werden. Das können gefüllte Kroketten, einige Scheiben Serano-Schinken sein oder einfach ein Tellerchen mit Kartoffeln in Soße.

Die Köstlichkeiten genießt man direkt an der Bar. „Granada ist die einzige Provinz Spaniens, bei der Tapas zum Getränk kostenlos serviert werden“, weiß Laura Kutter, die hier fünf Jahre studierte und arbeitete. Sie kennt, natürlich, die besten Adressen. Zum Schmecken und Probieren gibt es auch unterwegs immer etwas. Mal ist es eine köstliche Paella im Strandlokal, mal sind es fruchtige Mandarinen und Granatäpfel beim Zitrusbauern auf dem Weg nach Granada, einige Tage später Olivenöl-Kostproben kurz vor Córdoba. Am Ende sagt Jörg Strothmann, was viele denken: „Solch eine Reise ist eine gegenseitige Bereicherung.“

Infos zu Andalusien

Anreise
Flug von Stuttgart, in der Regel mit Zwischenstopp, zum Beispiel mit Swiss Air ( www.swissair.com ), Germanwings ( www.germanwings.com ) oder Iberia ( www.iberia.com ).

Die Reise
Die vorgestellte einwöchige Kulturreise von Tour de Sens durch Andalusien führt vom Ankunftsflughafen Málaga nach Granada und Córdoba. Auf dem Programm stehen Stadtrundgänge sowie eine ausführliche, blindengerechte Besichtigung der Kathedrale von Córdoba. Die Reise wird wieder 2015 vom 7. bis 14. November angeboten. Zu dieser Jahreszeit ist das Klima angenehm. Übernachtet wird in Drei-Sterne-Hotels. Kosten inklusive Halbpension: Sehende 693 Euro, Reisende mit Hilfebedarf (Blinde) 1440 Euro (jeweils ohne Flug).

Der Veranstalter
Der Stuttgarter Reiseveranstalter Tour de Sens bietet 2015 insgesamt 15 verschiedene Reisen für Blinde, Sehbehinderte und Sehende an, sowohl Fern- als auch Europa-Ziele. Zum Beispiel vom 18. bis 25. April nach Mallorca, vom 2. bis 9. Mai an die Algarve oder vom 21. bis 25. Oktober in den Schwarzwald. Kontakt: Tour de Sense, Mittnachtstr. 6, 70191 Stuttgart, Telefon 07 11 / 57 64 83 97, E-Mail: info@tourdesens.de www.tourdesens.de

Voraussetzungen
Wer als Sehender mitfährt, braucht keinerlei Erfahrung im Umgang mit Blinden oder Sehbehinderten. Zu Beginn jeder Reise gibt es eine kleine Einführung, was zu beachten ist. Eine Begleitung ist nur während des Programmablaufs vorgesehen. Es gibt ganze oder halbe Tage zur freien Verfügung oder mit einem optionalen Programmpunkt.