Kinder posieren vor einem prähistorischen Bauwerk mit zum „T“ geformten Armen, was für die talayotische Kultur steht. Foto: Diemar

Menorca besinnt sich auf seine Fülle an Bauwerken aus der prähistorischen Megalith-Kultur. Über ihre Geschichte ist aber nur wenig bekannt.

Sie kamen über das Mittelmeer. Schreckliches musste in ihrer alten Heimat geschehen sein, denn viele hatten Verwundungen erlitten. Sie mussten fort, einer besseren Zukunft willen. Doch anders als heute führte die Route der Flüchtlinge über die See von Nord nach Süd, von Frankreich zum östlichsten Punkt Iberiens. Sie waren weder willkommen noch angefeindet, denn die Insel, die ihre neuen Heimat werden sollte, war unbewohnt. 4000 Jahre sind seither vergangen. „Niemand weiß genau, welche Konflikte und Nöte die Menschen der Bronzezeit über das Meer nach Menorca getrieben hatten“, erklärt die junge Archäologin Elena Sintes Olives. „Menorca hat die höchste Dichte an archäologischen Stätten im gesamten Mittelmeerraum“, sagt sie. 1574 Fundstellen gibt es, 1400 davon sind als wertvoll eingestuft, das macht im Durchschnitt zwei Fundorte auf einem einzigen Quadratkilometer. Mit 32 ausgewählten Monumenten hat sich Menorca für das Jahr 2016 bei der Unesco um die Anerkennung als Weltkulturerbe beworben. Menorca, so heißt es oft, sei steinreich. Wie harte mineralische Adern durchziehen Bruchsteinmauern die gesamte Insel. Wann immer es hier ein Feld zu bestellen galt, musste man Steine aus dem Erdreich klauben, um die karge Krume zu verbessern. Man fügte sie zu Trockenmauern, grenzte damit die Grundstücke ab, vor allem aber brach man so den Wind auf diesem flachen Eiland.

Steinreich ist Menorca aber vor allem, was sein prähistorisches Erbe angeht. Manche dieser Stätten liegen direkt neben der Straße. Die Naveta des Tudons nahe der im Westen gelegenen Hafenstadt Ciutadella ist ein solches Bauwerk. Grobe Quader sind in der Form eines gigantischen umgedrehten Schiffsrumpfes aufgeschichtet. Die Naveta, deren Errichtung man um 1400 v. Chr. datiert, diente als Gemeinschaftsgrab. Die Gebeine von mehr als 100 Menschen wurden hier gefunden, ferner Grabbeigaben wie Schmuck und Speerspitzen aus Bronze, Knochen und Stein sowie kleine Gefäße aus Keramik. Manche Skelette wiesen Verletzungen von Pfeilen oder anderen Waffen auf, die lange vor dem Tod erfolgten und sich später verwuchsen. Deshalb geht man davon aus, dass die Flüchtlinge nach Menorca kamen, um einem von Gefahr und Gewalt geprägten Leben zu entrinnen. Die Naveta liegt nur wenige Minuten von der Straße entfernt auf einer Plattform aus Kalkstein. Das Grabmal gilt als eines der bedeutendsten Bauwerke der europäischen Vorgeschichte und ist das bekannteste der Balearen. Die Besucher kommen in Scharen, Reisende ebenso wie Einheimische. Eine Familie aus der größten Inselstadt Maó ist mit den beiden Töchtern da. Vor dem Monument posieren die Kinder mit zum „T“ geformten Armen. Die Geste ist derzeit angesagt auf Menorca. Das T steht für die talayotische Kultur, einer Megalith-Kultur, die durch Turm- und andere Bauten in Großstein-Bauweise gekennzeichnet ist und von der es auf Menorca weit mehr Funde gibt als auf benachbarten Baleareninseln.

Die Prähistorie Menorcas verstehen

Jedes Kind auf der Insel kennt inzwischen jenes Video, das sich zum Klickhit auf You Tube entwickelt. Ein Clip, in dem Menorquiner unisono die Hände zum „T“ formen - Schulkinder ebenso wie Schuhmacherinnen, Feuerwehrleute, Kellner und Bauern. „Wir sind alle talayotisch“, lautet die Losung, mit der man der Anerkennung als Weltkulturerbe entgegenfiebert. Doch die Vorgeschichte zu verstehen, ist nicht leicht. Es gibt keinerlei schriftliche Zeugnisse. Man muss die Steine lesen. Und sie vorher finden, drehen und wenden, wieder zusammenfügen. So wie Elena es macht, die verschiedene Ausgrabungen auf der Insel geleitet hat. Fündig wird sie an jedem unserer gemeinsamen Tage. Ihre Augen suchen unentwegt den Boden ab. Einmal findet sie die Scherbe einer phönizischen Weinamphore, ein anderes Mal das Bruchstück einer talayotischen Keramik. Die ersten prähistorischen Bauten auf Menorca waren Grabdolmen, von denen noch sieben auf der Insel erhalten sind. Danach baute man eher plump gefügte Wohnnavetas, später exakter aufgeschichtete Grabnavetas. Noch später wuchsen die gewaltigen Talayot-Türme in die Höhe, oft in der Nähe sogenannter Taulas, bis zu fünf Meter aufragende Monumente in Form eines „T“. Taulas gibt es an keinem anderen Ort der Welt - nur auf Menorca! Manche der prähistorischen Schätze findet man wie zufällig am Wegrand bei Wandertouren. Der Camí de Cavalls, was so viel wie Pferdeweg heißt, diente einst als Patrouillenweg rund um die Insel. Heute sind daraus 165 Kilometer Wanderweg in 20 Etappen geworden. Der Pfad führt von einer poolblauen Bucht zur anderen.

Menorca hat herrliche und selbst im Hochsommer nur an wenigen Stellen überlaufene Strände zu bieten. Grabhöhlen, Brunnenanlagen, Dolmen oder eine frühchristliche Basilika liegen oft nur einen Steinwurf vom Strand entfernt. Die meisten Monumente sind jederzeit frei zugänglich. Nur wenige kosten an manchen Tagen oder in der Hochsaison eine kleine Eintrittsgebühr. Der größte Reiz der prähistorischen Stätten liegt darin, dass sie in die Landschaft eingebettet sind. Im Frühling präsentiert sich dieses Ensemble von Natur und früher zivilisatorischer Monumentalität in seiner schönsten Form. Überall zwischen den Ruinen blüht es. Müsste man sich, neben der am leichtesten zu erreichenden Naveta des Tudons, für den Besuch einer einzigen anderen Fundstätte entscheiden, so sollte es die von Torre d’en Galmés sein. Das ausgedehnte Areal mit weitem Blick über den Inselsüden war vermutlich die wichtigste Siedlung der Blütezeit der Talayot-Kultur zwischen 1300 und 123 v. Chr. Acht Türme und Wohnanlagen verteilen sich in der Landschaft. Selbst steinerne Hütten für Wachhunde lassen sich hier entdecken. Eine kleine Wanderung führt weiter zum Dolmen Roques Llises, dem wohl ältesten Bauwerk der Insel aus prätalayotischer Zeit. Nur einen Steinwurf davon entfernt liegen die Ruinen einer gewaltigen Säulenhalle. Vor diesem chaotischen Haufen von Steinbrocken hat Elena Sintes beschlossen, Archäologin zu werden. Das Geld zur Restaurierung fehlt bislang. Aber das Bewusstsein, welcher Schatz hier von Wildblumen überwuchert ist, wächst beständig.