In der Diskussion: Ein Mittel zur Narkose. Foto: dpa

100 Euro pro 250-Milliliter-Flasche lassen sich sparen, wenn man das Narkosemittel Sevofluran von der indischen Firma Piramal statt wie bisher von Abbvie bezieht. Doch Ärzte warnen vor einem Produkt mit „sehr problematischen Eigenschaften“.

Stuttgart - Es sei „skandalös“: Dr. Anton G. (Name von der Redaktion geändert), ein Anästhesist aus Stuttgart, findet deutliche Worte, wenn er über das Vorgehen der gesetzlichen Krankenkassen spricht. Sein Vorwurf: Die Kassen versuchten, die Anästhesisten durch hohe Regresse zu zwingen, das Narkosemittel Sevofluran durch ein „billiges Nachahmerprodukt einer weitgehend unbekannten indischen Firma aus Mumbai“ zu ersetzen. „Die Kassen machen da unrechtmäßige Dinge“, sagt Anton G.

Doch von Anfang an: Sevofluran ist ein gasförmiges Narkosemittel. Es wird für gesetzlich Versicherte von den Ärzten als Sprechstundenbedarf zu Lasten der Gesetzlichen Krankenkassen verbucht. Lange Zeit wurde es von der Firma Abbvie bezogen – und laut Dr. Anton G. problemlos verwendet. Doch seit dem Jahr 2015 würden Ärzte von der AOK Baden-Württemberg – die den Sprechstundenbedarf verwaltungstechnisch für sich sowie die anderen gesetzlichen Krankenkassen erledigt – dazu angehalten, das Mittel von der Firma Piramal zu erwerben. Der Grund: Es ist billiger.

Ein Produkt mit „sehr problematischen Eigenschaften und mit problematischer Anwendung“

Das bestätigt die AOK: Im Vergleich zum Erstanbieter sei Sevofluran von Piramal um rund 100 Euro pro 250-Milliliter-Flasche preisgünstiger. Der Apothekenverkaufspreis belaufe sich auf 179,99 Euro für das Medikament von Piramal und 279,73 Euro für das Produkt von Abbvie. Seit September 2014 sei dieses Narkosemittel als Generikum der Firma Piramal erhältlich. „Über diesen Preisvorteil wurden Ärzte, die häufig Sevofluran verordnen, mit zweimaligen Beratungsschreiben im September und Dezember 2015 informiert“, so die offizielle Auskunft der AOK.

„Billig ginge ja noch“, sagt Anton G. Aber er und einige Kollegen warnen, dass es sich um ein Produkt mit „sehr problematischen Eigenschaften und mit problematischer Anwendung“ handle. Die Bedenken der Ärzte sind vielfältig. Zum einen könne bei Sevofluran unter ungünstigen Umständen Flusssäure entstehen, eine farblose, stechend riechende, hochgiftige Flüssigkeit. Bei dem Produkt von Abbvie schützt die Verpackung – eine Kunststoffflasche mit hohem Wasser- oder genauer gesagt OH- -Gehalt – vor einer Zersetzung. Das sei bei dem Produkt von Piramal nicht der Fall. Deshalb schreibt das Sicherheitsdatenblatt vor, dass das Mittel per Geruchsprobe überprüft werden soll. Doch das sei eine Zumutung für das Personal, sagt Anton G. Zudem stehe nicht dabei, wann Geruchsproben zu leisten seien: Beim Öffnen der Flasche, also vor dem Einfüllen in den Verdampfer? Oder vor jeder Narkoseeinheit? Da Flusssäure aggressiv ist und Gefahr für Verätzungen der Lunge gegeben sei, möchte Anton G. kein Risiko eingehen.

Das Mittel von Piramal wird in Mumbai produziert

Problematisch findet er auch, dass das Mittel laut Sicherheitsdatenblatt im Verdampfer zu Korrosionserscheinungen führen könne. „Will ich das dem Patienten dann in die Lunge blasen?“, fragt Anton G. Auch die Anwendung sei ein kritischer Punkt, denn im Datenblatt sei nicht vermerkt, dass das Mittel über eine Rachenmaske verabreicht werden dürfe, sondern nur über eine Gesichtsmaske oder Intubation. „Dabei ist die Narkosen über die Rachenmaske die gebräuchlichste Verabreichungsform“, sagt Anton G. Verwende er es dennoch in dieser Form und es passiere etwas, hafte er dafür.

Ein weiterer Punkt, der Anton G. und seine Kollegen misstrauisch macht, ist, dass das Mittel der Firma Piramal in Mumbai produziert wird. „Nach den Meldungen der vergangenen Zeit über den Medikamente-Pfusch dort wird man im höchsten Maße misstrauisch“, so Anton G. Zudem ist der deutsche Sitz der Firma als GmbH eingetragen – ungewöhnlich für eine Pharmafirma: „Das ist eine Rechtsform für eine Würstchenbude. Denn da haftet man mit gerade einmal 25 000 Euro – da würde ein Patient mit einer Schadensersatzklage nicht weit kommen“, sagt Anton G.

„Gäbe es Mängel, wäre Sevofluran von Piramal gar nicht zugelassen worden“

Die AOK bestreitet, dass eine gesundheitliche Gefahr von Sevofluran von Piramal ausgeht – ohne jedoch auf die Fragen oder Vorwürfe des Arztes, die ihr vorlagen, im Detail einzugehen. „Die Firma Piramal hat gegenüber den Zulassungsbehörden den Nachweis erbringen müssen, dass Sevofluran Piramal therapeutisch äquivalent zum Originalpräparat Sevorane der Firma Abbvie ist“, so die AOK. Anton G. weist darauf hin, dass es sich bei den beiden Medikamenten formal tatsächlich um ein wirkstoffidentisches Produkt handle – bei dem aber die Verpackung und die Anwendungsweise den Unterschied ausmache.

In der Antwort der AOK heißt es weiter: „Gäbe es die von der Firma Abbvie und in der Folge von einigen Arztpraxen vorgetragenen und von ihnen zitierten Mängel, wäre Sevofluran von Piramal gar nicht zugelassen worden“. Zudem sei es bisher nicht „ zu irgendwelchen Problemen gekommen“. Auf Anfrage dieser Zeitung hat die AOK Piramal, „um alle Zweifel auszuschließen, wegen dieser angeblichen Mängel von Seiten der GKV um eine Stellungnahme gebeten, in der, wie zu erwarten, die unzutreffenden Behauptungen der Firma Abbvie überzeugend widerlegt wurden“, teilt die AOK mit. Denn es sei die Firma Abbvie gewesen, die die Vorwürfe aufgebracht habe. „Der Firma Abbvie wurde zwischenzeitlich gerichtlich auferlegt, diese Behauptungen zu unterlassen“.

Der Fall wurde einem Anwalt übergeben

Anton G. und einige seiner Kollegen, die sich weigern, Sevofluran über Piramal zu beziehen – laut AOK Baden-Württemberg hat von den seinerzeit angeschriebenen Arztpraxen knapp die Hälfte zeitnah auf das preisgünstigere Generikum der Firma Piramal umgestellt –, sollen nun Regressforderungen nachkommen. „Für das Jahr 2016 soll ich 20 000 Euro zahlen“, sagt Anton G. Von Seiten der AOK heißt es indes: „Nachdem den zuvor beratenen Arztpraxen gut ein Jahr Zeit für eine Umstellung gelassen wurde, sind in Anbetracht des erheblichen Einsparpotenzials von knapp einer Viertel Million Euro pro Jahr bei therapeutischer Gleichwertigkeit Prüfanträge von der GKV gestellt worden“.

Das Ziel der gesetzlichen Kassen liegt für Anton G. auf der Hand: „Die möchten Kosten senken“, sagt Anton G., der anonym bleiben will, da „die Kassen nachtragend sein können“. Er und rund zehn Kollegen haben den Fall nun einem Anwalt übergeben.