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Thurston Moore und Lee Ranaldo von Sonic Youth präsentieren in Schorndorf ihre Soloprojekte.

Das Haus der Kunst, München, im April 2009: Thurston Moore schiebt das „Autobahn“-Buch, den „Vanity Fair Portraits“-Wälzer, den Oberammergau-Bildband zur Seite, stöbert in einem weiteren Bücherstapel nach Brauchbarem. „Das ist doch bloß langweiliges Zeugs“, nölt er. Eben noch hat er behauptet, dass er in Museen immer etwas mitgehen lasse. Aber bisher findet sich nichts, das zu klauen sich lohnt. Thomas Weski, damals stellvertretender Direktor am Haus der Kunst, hat leichtfertig sein Büro für das Interview zur Verfügung gestellt. Während sich Moore an den Regalen zu schaffen macht und Gott sei Dank wenigsten den Tresorschrank in der Ecke in Ruhe lässt, hat Lee Ranaldo längst artig am Schreibtisch Platz genommen. „Thurston, du warst schon mal hier, oder?“, fragt er. „Um was zu machen?“, murmelt Moore. „Na, um dir irgendeine Ausstellung anzuschauen!“ „Ach so“, sagt dieser und kramt mürrisch weiter, „kann schon sein.“

Als sich diese Szene abspielte, hatten Sonic Youth gerade das Album „The Eternal“ veröffentlicht und gaben Konzerte in München und Düsseldorf, die die letzten der Band in Deutschland werden sollten. Denn inzwischen gehen Kim Gordon und Thurston Moore, die zusammen mit Lee Ranaldo und Steve Shelley Sonic Youth waren, privat getrennte Wege. Getrennt voneinander kehren nun aber fast alle zurück – und zwar in die Manufaktur. Der Club holt an diesem Dienstag Lee Ranaldos Soloprojekt und Steve Shelleys neue Band Disappears nach Schorndorf. Am 2. August wurde Thurston Moore für einen Auftritt gebucht. Mit dem Versuch, die in ihre Einzelteile zerlegte Band in einem neuen, zeitlich zergliederten Diskurs indirekt wieder zusammenzusetzen, wird die Manufaktur einmal mehr ihrem Ruf gerecht, ein Gespür für exzellentes Booking zu haben.

Tatsächlich dekonstruieren die aktuellen Soloalben Ranaldos und Moores – „Between The Times And Tides“ von 2012 und „Demolished Thoughts“ aus dem Jahr 2011 – das Sonic-Youth-Œuvre, setzen der simultanen Vielfalt der Elemente Reduktion und Konzentration entgegen: mal die ekstatische Inszenierung mit Feedback-Gitarren, mal den lyrisch-poetischen Ton, mal klassisches Songwriting, mal komplexe Architektur. Wie Lee Ranaldo in München sagte: „Bei Sonic Youth gibt es keine zentrale Aussage, sondern es geht darum, möglichst viele verschiedene Aspekte einzubringen, die nur in ihrer Vielfalt Sinn ergeben.“

Dass die New Yorker 2009 bei ihrer letzten Tour im Haus der Kunst auftraten, war natürlich kein Zufall. Denn dieses zeigte damals eine Ausstellung mit abstrakten Bildern Gerhard Richters. Und dessen Ölgemälde „Kerze“ aus dem Jahr 1983 hatten sich Sonic Youth 1988 für das Cover ihres Experimentalrock-Meisterwerks „Daydream Nation“ ausgesucht.

Nicht nur mit ihren Coverdesigns haben Sonic Youth stets Pop- und Kunstdiskurs vermischt. Schließlich fühlen sie nach wie vor der bevorzugt multidisziplinär arbeitenden alternativen Kulturszene New Yorks verpflichtet. Und während der Bandgründer, Sänger und Gitarrist Moore in den Anfangsjahren in irgendwelchen Küchen oder Copyshops jobben musste, arbeitete Gitarrist Ranaldo zunächst nebenher als Assistent des Bildhauers David Klass, der immer noch in der 24. Straße in Manhattan sein Atelier hat.

„Ich hatte damals nicht den Eindruck, dass ich die Kunst aufgebe, als ich bei Sonic Youth angefangen haben“, erinnert sich Ranaldo, „auch wenn viele zunächst nicht begreifen wollten, dass ein Künstler auch jemand sein kann, der sich eine Gitarre umhängt. Aber genau darum ging es uns damals, und darum geht es uns immer noch: Wir sind Künstler, die einen Großteil ihrer Kunst in Form von Musik machen.“ Weil es bei Sonic Youth also immer um viel mehr als nur Musik ging, widmete 2009 die Kunsthalle Düsseldorf den Bandmitglieder sogar eine eigene Ausstellung namens „Sonic Youth – Sensational Fix“. Und als die Band dort ihren Auftritt hatte, bekam man in Düsseldorf gleich doppelt vorgeführt, wie laut moderne Kunst sein kann.

Als die Kunststudenten Kim Gordon und Lee Ranaldo in den späten 1970er Jahren nach New York kamen, fanden sie dort eine experimentierfreudige Kunst- und Musikszene vor. Gordon arbeitete zwar zunächst in Galerien, organisierte Ausstellungen, schrieb für Magazine wie „Artforum“, doch wie viele andere Künstler zu der Zeit versuchten sich sie und Ranaldo auch als Musiker in Avantgarde-Bands. „Damals schienen bildende Kunst und experimentelle Musik von ein und derselben Energie getragen, und ein natürliches Cross-over zwischen beiden Bereichen, wie es damals gang und gäbe war, legte den Grundstein für die verschiedene Disziplinen umfassenden Tätigkeiten von Sonic Youth“, meint Roland Groenenboom, der zusammen mit der Band die Ausstellung „Sonic Youth – Sensational Fix“ kuratierte.

Künstler wie Musiker gefielen sich in rebellischen Posen, die Übergänge zwischen Kunstausstellung und Performance waren fließend, Konzerte fanden häufig in Kunstgalerien statt. Und wie die Sonic-Youth-Mitglieder arbeiteten die meisten Protagonisten der alternativen Szene New Yorks multidisziplinär: Robert Longo ebenso wie Lydia Lunch oder Richard Prince.

Als wichtige Integrationsfiguren galten etwa der Konzeptkünstler Dan Graham, der häufig mit einem schwerfälligen Aufnahmegerät bei No-Wave- und Punkrock-Konzerten auftauchte, um diese mitzuschneiden, oder der Avantgarde-Musiker Glenn Branca, in dessen Orchester Lee Ranaldo und Thurston Moore zeitweise vor dem Beginn von Sonic Youth spielten und der später auf seinem Label Neutral Records das Sonic-Youth-Debüt veröffentlichte.

Wie selbstverständlich und offen der Diskurs zwischen Musik und bildender Kunst stattfand, führt auch die Idee des „Noise Fest“ vor, bei dem Sonic Youth am 18. Juni 1981 ihren ersten öffentlichen Auftritt hatten. Der damals 23-jährige Thurston Moore hatte das Festival organisiert, das im White Columns in Soho stattfand. Moore zitierte auf den Festivalplakaten den New Yorker Clubbetreiber Robert Boykin, der sich in der „Soho Weekly“ über den Niedergang der Popmusik beschwert hatte. Mit dem Satz „Let’s face it, a lot of music has just become noise“, gab Boykind unfreiwillig nicht nur dem Festival, sondern einem neuen Musikgenre einen Namen.

„Es gab mal eine Zeit, in der es sich toll angefühlt hat, 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche Sonic Youth zu sein, inzwischen fühlt es sich besser an, immer mal wieder Sonic Youth zu entfliehen,“ sagte Thurston Moore schon 2009 in München, als er endlich aufgab, die Büroregale nach etwas Brauchbarem zu durchstöbern: „Ne, ich glaube, hier gibt’s nichts, das ich nicht schon kenne .“