Die Jamaika-Verhandlungen bedeuten für viele Beteiligte Zumutungen. Foto: dpa

Wer hat wo wunde Punkte? Die Jamaikaner gehen in die entscheidende Sondierungsphase - jeder für sich mit seinem eigenen Päckchen und seinen Zwängen.

Berlin - Der FDP-Chef schließt Neuwahlen nicht aus, der CSU-Chef kämpft ums politische Überleben und bei den Grünen fürchtet die Spitze das scharfe Schwert des Parteitags: In den nächsten beiden Wochen wollen die Jamaika-Verhandler Tacheles reden und konkrete Kompromisse finden. Doch zum Auftakt schwimmen die Unterhändler in schwerem Wasser. Für Verhandlungsführerin und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Spitzen von CSU, FDP und Grünen geht es erstmal um eines: kühlen Kopf bewahren. Oder wenigstens wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

Von Verwunderung bis Kopfschütteln reichten am Montag die Reaktionen in der Union über FDP-Chef Christian Lindner. Der hat gerade erst erneut lautstark verkündet, seine Partei habe „keine Angst vor Neuwahlen“. Er glaube nicht, dass dann vor allem die Rechtspopulisten von der AfD profitierten, wiederholt er in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe sein Mantra. Wenn sich die Anliegen der FDP nicht spürbar in einem Koalitionsprogramm wiederfänden, „gehen wir in die Opposition. Dafür nehme ich jeden Shitstorm in Kauf.“

Lindners Äußerungen sorgen für Verwunderung

Ist das Taktik und Rhetorik, um die eigenen Reihen zu schließen - oder ernst gemeint? In der Union rätseln sie über die Beweggründe des Liberalen. Die „Interviewkaskaden“ aus den Reihen der gelben und grünen Verhandler seien jedenfalls alles andere als hilfreich. Zwar sei ja klar, dass auch die FDP ihren Wahlversprechen und Anhängern treu bleiben müsse - aber nun sei doch bitteschön zu erwarten, dass mit dem Wahlergebnis konstruktiv umgegangen werde. Das erwarteten schließlich auch die Bürger von den Jamaikanern.

Dass die Menschen bei einer vorgezogenen Neuwahl ihre Kreuzchen woanders als am 24. September machen und so eine andere Machtverteilung herbeiwählen könnten, ist derzeit kaum zu erwarten. Platzt Jamaika, würde bei einer Neuwahl das Ergebnis nur wenig anders aussehen als vor sechs Wochen, legt eine Forsa-Umfrage nahe.

Ob die SPD dann anders als heute für eine weitere große Koalition zur Verfügung stünde? Ansonsten bliebe Kanzlerin Angela Merkel (CDU) nur ein neuer Anlauf auf Jamaika - wenn sie denn überhaupt erneut zur Wahl antreten würde - oder könnte. Bisher jedenfalls setzen in der SPD die Spitzen von Partei und Fraktion voll auf Opposition.

Kleine Parteien stehen unter Zwängen

Merkel dürfte also ein großes Interesse haben, dass Jamaika gelingt. Andernfalls dürften in ihrer Partei die Kritiker lauter werden. Sie warnt denn auch vor allem die FDP davor, immer wieder eine Neuwahl ins Spiel zu bringen. Auch die CDU müsse ein Jamaika-Bündnis nicht um jeden Preis eingehen. Aber alle Partner hätten die staatspolitische Verantwortung, eine stabile Regierung zustande zu bringen. Sie jedenfalls gehe in die Verhandlungen mit dem Vorsatz, dass es gelingen könne.

Die kleinen Verhandler verfolgten bisher vor allem eine Klientelpolitik, die stark die Binnensichten von FDP und Grünen im Auge habe, wird in der Kanzlerinnen-Partei analysiert. Dort wird denn auch davor gewarnt, ein Jamaika-Bündnis könne schon im Ansatz massiv belastet werden, wenn die Partner nicht langsam verbal abrüsteten. Ansonsten könnten die Schlagwörter des Dissenses irgendwann bei den Menschen haften bleiben.

Doch hinter dem Gezerre der Kleinen stecken massive Zwänge und Ängste. Die Grünen müssen auf ihrem Parteitag am 25. November liefern - beim Klimaschutz, bei Verbrennungsmotoren, bei Landwirtschaft und Zuwanderung. In dem Parteitag steckt also für die anderen Parteien ein gewisses grünes Erpressungspotenzial: Wenn ihr wollt, dass Jamaika klappt, müsst ihr uns einiges zugestehen.

Seehofers Zukunft ungewiss

Lindner und die FDP reagieren entsprechend und winken mit der Neuwahlen-Keule. Sie müssen deutlich machen: Wir haben nichts zu verschenken, wir haben aus Schwarz-Gelb 2009 bis 2013 unter Angela Merkel gelernt. Denn anschließend flogen die Liberalen aus dem Bundestag.

Ganz zu schweigen von den Unsicherheiten, die mit der ungeklärten politischen Zukunft von CSU-Chef Horst Seehofer zusammenhängen. Am Wochenende hatte mit der bayerischen Jungen Union (JU) die erste große CSU-Organisation offen den Rückzug des 68-Jährigen verlangt. Sein Gegner Markus Söder setzte sich bei der JU erneut unverhohlen als Ministerpräsident-Nachfolger in Szene. Seehofer hatte daraufhin die Vorneverteidigung gewählt und angekündigt, sich sehr schnell nach Abschluss der Jamaika-Sondierungen zur eigenen Zukunft und der personellen CSU-Aufstellung zu äußern.

In Berlin ist angesichts von soviel Unruhe in der CSU-Spitze schon die bange Frage aufgetaucht, ob ein möglicher Jamaika-Vertrag denn mit einem Seehofer-Erben erneut durchgekaut werden müsste. In der CDU setzen sie dabei auf die Macht des Faktischen - und die politische Vernunft der kleinen Schwesterpartei.

Eine Nachverhandlung werde es kaum geben, heißt es da. Es gelte auch für die CSU immer noch die Regel „Pacta sunt servanda“ - also das Prinzip der Vertragstreue. Außerdem dürften auch Söder oder andere Seehofer-Intimfeinde kein Interesse daran haben, die CSU ins Chaos zu stürzen. Denn schließlich ziehe die CSU ihren Nimbus als bundesweit bedeutsame Regionalpartei immer noch in weiten Teilen auch aus der Regierungsbeteiligung in Berlin.